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Stellenkommentar WL 2, KSA 1, S. 887-889 61

dem Menschen so ein Gefühl von Sicherheit. Die zahlreichen irrealen Ver-
gleichssätze in WL simulieren gewissermaßen modellhaft verschiedene mythi-
sche und wissenschaftliche Welthypothesen.
888, 8-11 Der Intellekt, jener Meister der Verstellung, ist so lange frei, und
seinem sonstigen Sklavendienste enthoben, als er täuschen kann, ohne zu scha-
den und feiert dann seine Saturnalien;] N. spannt den Bogen zum Eingang von
WL. Der Intellekt „als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums, entfaltet seine
Hauptkräfte in der Verstellung" (876, 15-16), heißt es dort, auf einer ersten
Entwicklungsstufe untersteht die „Verstellungskunst" (876, 20) des Intellekts
dem Gebot von „Noth und Langeweile" (877, 20). Kunst und Mythos wiederho-
len in der Fiktion die im unbekümmerten Naturzustand entwickelten menschli-
chen Praktiken, wobei diese Wiederholung, eingehegt auf das folgenlose Ge-
biet der Kunst, zugleich das ,Unbehagen' am Ursprung dieser Praktiken tilgt.
In diesem Sinne heißt es schon in GT, die Kunst sei „nicht nur Nachahmung
der Naturwirklichkeit, sondern gerade ein metaphysisches Supplement der Na-
turwirklichkeit [...], zu deren Ueberwindung neben sie gestellt" (GT 24, KSA
1, 151, 24-26). Kunst und Mythos sind gesellschaftlich sanktionierte Bereiche
ästhetischer Erfahrung und für den Intellekt gleichsam ersehnte „Saturnalien"
(888, 11), die als größtes Volksfest der römischen Frühzeit Ständegrenzen vorü-
bergehend aufhoben und den Sklaven die Möglichkeit boten, ungestraft die
eigenen Herren zu kritisieren (vgl. MA I, KSA 2, 174, 5-17). Doch die Narrenfrei-
heit, die Mythos und Kunst dem Intellekt gewähren, wenn sie ihm „das Zeichen
der Dienstbarkeit" (888, 15-16) verhüllen und ihn, der sonst nur „Hülfsmittel"
(876, 4) ist, Wirklichkeit in ästhetischer Übersteigerung vortäuschen lassen,
ist, wie auch das römische Fest, zeitlich begrenzte Abweichung vom Regulären
und Umkehrung der Wahrheit.
889, 13 „überfroher Held"] Die Wendung „,überfroher Held'" stammt aus der
Götterdämmerung, dem vierten Teil und dritten und letzten Tag von Wagners
Der Ring des Nibelungen (1876 uraufgeführt). In der 2. Szene im 3. Aufzug ruft
Gunther, der um Hagens Vorhaben weiß, angesichts des Übermuts Siegfrieds
seufzend aus: „Du überfroher Held!" Wie der intuitive Mensch „jene Nöthe
nicht sieht" (889, 13-14), sieht Siegfried den tödlichen Speer Hagens nicht kom-
men. Bezeichnenderweise trifft ihn der Speer, als er berauscht von „Mären"
aus früheren Tagen erzählt, sich also in entrückter künstlerischer Einstellung
befindet. N. besaß Wagners Gesammelte Schriften und Dichtungen in neun Bän-
den (Leipzig 1871-73) mit einem Widmungseintrag von Wagner von Anfang No-
vember 1873 im ersten Band. Im zweiten Band ist der Text von Siegfried's Tod,
wie die Götterdämmerung zunächst überschrieben war, enthalten (Wagner
1871). Eine erste Textbuchausgabe von Der Ring des Nibelungen. Ein Bühnen-
festspiel für drei Tage und einen Vorabend erscheint schon 1863.
 
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