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62 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne

889, 15-19 Wo einmal der intuitive Mensch, etwa wie im älteren Griechenland
seine Waffen gewaltiger und siegreicher führt, als sein Widerspiel, kann sich
günstigen Falls eine Kultur gestalten, und die Herrschaft der Kunst über das Le-
ben sich gründen;] Der Begriff der „Kultur" fällt hier (in 889, 18 u. 889, 31) das
einzige Mal in WL. Als „herrliche Illusion" (GT 25, KSA 1, 155, 7) macht die
Kunst, die innere Artikulation der „Kultur" (und ihrer verschiedenen Gestal-
ten), „das Dasein überhaupt lebenswerth" (GT 25, KSA 1, 155, 10-11), in dieser
Hinsicht beurteilt N. sie gar mit abstrakten (moralischen) Begriffen: „Wahr-
haftigkeit der Kunst: sie ist allein jetzt ehrlich" (NL 1872/73, KSA 7,
19[105], 454, 4-5). Der intuitive Mensch erfährt auf diese Weise fortdauernde
„Erlösung" (889, 33), eine Verhüllung der Nöte des Lebens, so dass der Intellekt
seinem „Sklavendienste enthoben" (888, 9) und in einer ganzheitlichen Kultur
auch die Wissenschaft freigesetzt wird. Wie der Begriff der Erlösung im religiö-
sen Diskurs stets die Erlösung von Unglück und Bösem meint, so erfährt auch
der intuitive Mensch bei N. „ein erhabenes Glück" (889, 25) und wird mit der
Auflösung von herkömmlichen begrifflichen Unterscheidungen auch von alten
moralischen Kategorien losgelöst. Die Erlösung des intuitiven Menschen ist für
N. aber nicht nur eine Erlösung von konventionellen Kategorien, sondern eine
Befreiung auch zu einem neuen Gebrauch dieser Kategorien, die nun am Wert
des individuellen Lebens gemessen werden.
890, 12-14 Wenn eine rechte Wetterwolke sich über ihn ausgiesst, so hüllt er
sich in seinen Mantel und geht langsamen Schrittes unter ihr davon.] Die Figur
des vernünftigen Menschen, der die „Maske mit würdigem Gleichmaasse der
Züge" (890, 10-11) trägt, ist vordergründig nach dem Modell des Stoikers ent-
worfen. N. präsentiert es mit deutlicher Ironie (vgl. Neymeyr 2009). Erwähnens-
wert ist, dass das an dieser Stelle gezeichnete Bild des „stoischen" (890, 4)
Menschen ein motivliches Vorbild beim Epikureer Horaz besitzt, den N. schon
als Schüler schätzte (Carmen III, 29, V. 54-55).
Indem der „durch Begriffe sich beherrschende Mensch" (890, 5) sich im
Schlussbild verhüllt, bedeckt er auch jede maßlose Erkenntnis und erträgt fort-
an wissend (pathetisch) die Illusion. Die Illusionen begleiten aber nicht mehr
ungeschieden „alle Aeusserungen eines solchen Lebens" (889, 21-22), sondern
werden bewusst hervorgerufen. In seiner tragischen Unschlüssigkeit, ob er sich
mitteilen oder verbergen soll, wird der verhüllte Gelehrte selbst zum Symbol
des Prinzips einer revelatio, eines Wechselspiels von Ver- und Enthüllung des
Sinns, das in WL am Problem der Sprache exemplifiziert wird.
890, 14 davon.] Gersdorffs Reinschrift folgend endet WL 2 hier. In N.s Vorfas-
sung findet sich anschließend eine im Block eingerückte und mit anderer Tinte
vermutlich nachträglich flüchtig hinzugefügte, schwer lesbare Passage (vgl.
 
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