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Scheibenberger, Sarah; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,3): Kommentar zu Nietzsches "Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69927#0083
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66 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne

im Dasein festzuhalten; aus dem sie sonst, ohne jene Beigabe, so
schnell wie Lessings Sohn zu flüchten allen Grund hätten. Jener
mit dem Erkennen und Empfinden verbundene Hochmuth, ver-
blendende Nebel über die Augen und Sinne der Menschen legend,
täuscht sie also über den Werth des Daseins, dadurch dass er über 10
das Erkennen selbst die schmeichelhafteste Werthschätzung in
sich trägt. Seine allgemeinste Wirkung ist Täuschung - aber auch
die einzelsten Wirkungen tragen etwas von gleichem Charakter
an sich.
Der Intellekt, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums, 15
entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung; denn diese ist das
Mittel, durch das die schwächeren, weniger robusten Individuen
sich erhalten, als welchen einen Kampf um die Existenz mit
Hörnern oder scharfem Raubthier-Gebiss zu führen versagt ist.
Im Menschen kommt diese Verstellungskunst auf ihren Gipfel: 20
hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das
Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentiren, das im erborgten
Glanze Leben, das Maskirtsein, die verhüllende Convention, das
Bühnenspiel vor Anderen und vor sich selbst, kurz das fortwäh-
rende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die 25
Regel und das Gesetz, dass fast nichts unbegreiflicher ist, als wie
unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahr-
heit aufkommen konnte. Sie sind tief eingetaucht in Illusionen
und Traumbilder, ihr Auge gleitet nur auf der Oberfläche der
Dinge herum und sieht „Formen", ihre Empfindung führt nir- 30
gends in die Wahrheit, sondern begnügt sich Reize zu empfangen
und gleichsam ein tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge zu
spielen. Dazu lässt sich der Mensch Nachts, ein Leben hindurch,
im Traume belügen, ohne dass sein moralisches Gefühl dies je
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zu verhindern suchte: während es Menschen geben soll, die durch
starken Willen das Schnarchen beseitigt haben. Was weiss der
Mensch eigentlich von sich selbst! Ja, vermöchte er auch nur sich
einmal vollständig, hingelegt wie in einen erleuchteten Glas-
kasten, zu percipiren? Verschweigt die Natur ihm nicht das Aller- 5
meiste, selbst über seinen Körper, um ihn, abseits von den Win-
dungen der Gedärme, dem raschen Fluss der Blutströme, den ver-
wickelten Fasererzitterungen, in ein stolzes gauklerisches Be-
wusstsein zu bannen und einzuschliessen! Sie warf den Schlüssel
 
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