Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
70 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne

keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt,
sondern nur ein für uns unzugängliches und undefinirbares X.
Denn auch unser Gegensatz von Individuum und Gattung ist 25
anthropomorphisch und entstammt nicht dem Wesen der Dinge,
wenn wir auch nicht zu sagen wagen, dass er ihm nicht entspricht:
das wäre nämlich eine dogmatische Behauptung und als solche
ebenso unerweislich wie ihr Gegentheil.
Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, 30
Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von
menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert,
übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche
einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahr-
1188111
heiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie
welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos ge-
worden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als
Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen. Wir wissen
immer noch nicht, woher der Trieb zur Wahrheit stammt: denn 5
bis jetzt haben wir nur von der Verpflichtung gehört, die die
Gesellschaft, um zu existiren, stellt, wahrhaft zu sein, d. h. die
usuellen Metaphern zu brauchen, also moralisch ausgedrückt: von
der Verpflichtung nach einer festen Convention zu lügen, schaa-
renweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen. Nun ver- 10
gisst freilich der Mensch, dass es so mit ihm steht; er lügt also in
der bezeichneten Weise unbewusst und nach hundertjährigen Ge-
wöhnungen - und kommt eben durch diese Unbe-
wusstheit, eben durch dies Vergessen zum Gefühl der Wahr-
heit. An dem Gefühl verpflichtet zu sein, ein Ding als roth, ein 15
anderes als kalt, ein drittes als stumm zu bezeichnen, erwacht eine
moralische auf Wahrheit sich beziehende Regung: aus dem Gegen-
satz des Lügners, dem Niemand traut, den alle ausschliessen,
demonstrirt sich der Mensch das Ehrwürdige, Zutrauliche und
Nützliche der Wahrheit. Er stellt jetzt sein Handeln als ver- 20
nünftiges Wesen unter die Herrschaft der Abstractionen: er
leidet es nicht mehr, durch die plötzlichen Eindrücke, durch die
Anschauungen fortgerissen zu werden, er verallgemeinert alle
diese Eindrücke erst zu entfärbteren, kühleren Begriffen, um an
sie das Fahrzeug seines Lebens und Handelns anzuknüpfen. Alles, 25
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften