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Scheibenberger, Sarah; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,3): Kommentar zu Nietzsches "Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69927#0089
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72 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne

genie erhebt sich solcher Maassen der Mensch weit über die Biene: 30
diese baut aus Wachs, das sie aus der Natur zusammenholt, er aus
dem weit zarteren Stoffe der Begriffe, die er erst aus sich fabri-
ciren muss. Er ist hier sehr zu bewundern - aber nur nicht wegen
seines Triebes zur Wahrheit, zum reinen Erkennen der Dinge.
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Wenn Jemand ein Ding hinter einem Busche versteckt, es eben
dort wieder sucht und findet, so ist an diesem Suchen und
Finden nicht viel zu rühmen: so aber steht es mit dem Suchen und
Finden der „Wahrheit" innerhalb des Vernunft-Bezirkes. Wenn
ich die Definition des Säugethiers mache und dann erkläre, nach 5
Besichtigung eines Kameels: Siehe, ein Säugethier, so wird damit
eine Wahrheit zwar an das Licht gebracht, aber sie ist von be-
gränztem Werthe, ich meine, sie ist durch und durch anthropo-
morphisch und enthält keinen einzigen Punkt, der „wahr an sich",
wirklich und allgemeingültig, abgesehen von dem Menschen, 10
wäre. Der Forscher nach solchen Wahrheiten sucht im Grunde nur
die Metamorphose der Welt in den Menschen; er ringt nach einem
Verstehen der Welt als eines menschenartigen Dinges und er-
kämpft sich besten Falls das Gefühl einer Assimilation. Aehnlich
wie der Astrolog die Sterne im Dienste der Menschen und im Zu- 15
sammenhange mit ihrem Glück und Leide betrachtet, so betrachtet
ein solcher Forscher die ganze Welt als geknüpft an den Menschen,
als den unendlich gebrochenen Wiederklang eines Urklanges, des
Menschen, als das vervielfältigte Abbild des einen Urbildes, des
Menschen. Sein Verfahren ist: den Menschen als Maass an alle 20
Dinge zu halten, wobei er aber von dem Irrthume ausgeht, zu
glauben, er habe diese Dinge unmittelbar als reine Objekte vor
sich. Er vergisst also die originalen Anschauungsmetaphern als
Metaphern und nimmt sie als die Dinge selbst.
Nur durch das Vergessen jener primitiven Metapherwelt, nur 25
durch das Hart- und Starr-Werden einer ursprünglich in hitziger
Flüssigkeit aus dem Urvermögen menschlicher Phantasie hervor-
strömenden Bildermasse, nur durch den unbesiegbaren Glauben,
diese Sonne, dieses Fenster, dieser Tisch sei eine Wahrheit
an sich, kurz nur dadurch, dass der Mensch sich als Subjekt und 30
zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst,
lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und Consequenz; wenn er
einen Augenblick nur aus den Gefängnisswänden dieses Glaubens
heraus könnte, so wäre es sofort mit seinem „Selbstbewusstsein"
 
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