74 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
ewigen Consequenz, Allgegenwärtigkeit und Unfehlbarkeit der
Naturgesetze überzeugte; er hat den Schluss gemacht: hier ist 5
alles, soweit wir dringen, nach der Höhe der teleskopischen und
nach der Tiefe der mikroskopischen Welt, so sicher, ausgebaut,
endlos, gesetzmässig und ohne Lücken; die Wissenschaft wird
ewig in diesen Schachten mit Erfolg zu graben haben und alles
Gefundene wird zusammenstimmen und sich nicht widersprechen. 10
Wie wenig gleicht dies einem Phantasieerzeugniss: denn wenn es
dies wäre, müsste es doch irgendwo den Schein und die Unrealität
errathen lassen. Dagegen ist einmal zu sagen: hätten wir noch,
jeder für sich eine verschiedenartige Sinnesempfindung, könnten
wir selbst nur bald als Vogel, bald als Wurm, bald als Pflanze 15
percipiren, oder sähe der eine von uns denselben Reiz als roth,
der andere als blau, hörte ein Dritter ihn sogar als Ton, so würde
niemand von einer solchen Gesetzmässigkeit der Natur reden,
sondern sie nur als ein höchst subjectives Gebilde begreifen. So-
dann: was ist für uns überhaupt ein Naturgesetz; es ist uns nicht 20
an sich bekannt, sondern nur in seinen Wirkungen d. h. in seinen
Relationen zu anderen Naturgesetzen, die uns wieder nur als
Relationen bekannt sind. Also verweisen alle diese Relationen
immer nur wieder auf einander und sind uns ihrem Wesen nach
unverständlich durch und durch; nur das, was wir hinzubringen, 25
die Zeit, der Raum, also Successionsverhältnisse und Zahlen sind
uns wirklich daran bekannt. Alles Wunderbare aber, das wir
gerade an den Naturgesetzen anstaunen, das unsere Erklärung
fordert und uns zum Misstrauen gegen den Idealismus verführen
könnte, liegt gerade und ganz allein nur in der mathematischen 30
Strenge und Unverbrüchlichkeit der Zeit- und Raum-Vorstellun-
gen. Diese aber produciren wir in uns und aus uns mit jener Noth-
wendigkeit, mit der die Spinne spinnt; wenn wir gezwungen sind,
alle Dinge nur unter diesen Formen zu begreifen, so ist es dann
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nicht mehr wunderbar, dass wir an allen Dingen eigentlich nur
eben diese Formen begreifen: denn sie alle müssen die Gesetze der
Zahl an sich tragen, und die Zahl gerade ist das Erstaunlichste in
den Dingen. Alle Gesetzmässigkeit, die uns im Sternenlauf und
im chemischen Process so imponirt, fällt im Grund mit jenen 5
Eigenschaften zusammen, die wir selbst an die Dinge heranbrin-
gen, so dass wir damit uns selber imponiren. Dabei ergiebt sich
ewigen Consequenz, Allgegenwärtigkeit und Unfehlbarkeit der
Naturgesetze überzeugte; er hat den Schluss gemacht: hier ist 5
alles, soweit wir dringen, nach der Höhe der teleskopischen und
nach der Tiefe der mikroskopischen Welt, so sicher, ausgebaut,
endlos, gesetzmässig und ohne Lücken; die Wissenschaft wird
ewig in diesen Schachten mit Erfolg zu graben haben und alles
Gefundene wird zusammenstimmen und sich nicht widersprechen. 10
Wie wenig gleicht dies einem Phantasieerzeugniss: denn wenn es
dies wäre, müsste es doch irgendwo den Schein und die Unrealität
errathen lassen. Dagegen ist einmal zu sagen: hätten wir noch,
jeder für sich eine verschiedenartige Sinnesempfindung, könnten
wir selbst nur bald als Vogel, bald als Wurm, bald als Pflanze 15
percipiren, oder sähe der eine von uns denselben Reiz als roth,
der andere als blau, hörte ein Dritter ihn sogar als Ton, so würde
niemand von einer solchen Gesetzmässigkeit der Natur reden,
sondern sie nur als ein höchst subjectives Gebilde begreifen. So-
dann: was ist für uns überhaupt ein Naturgesetz; es ist uns nicht 20
an sich bekannt, sondern nur in seinen Wirkungen d. h. in seinen
Relationen zu anderen Naturgesetzen, die uns wieder nur als
Relationen bekannt sind. Also verweisen alle diese Relationen
immer nur wieder auf einander und sind uns ihrem Wesen nach
unverständlich durch und durch; nur das, was wir hinzubringen, 25
die Zeit, der Raum, also Successionsverhältnisse und Zahlen sind
uns wirklich daran bekannt. Alles Wunderbare aber, das wir
gerade an den Naturgesetzen anstaunen, das unsere Erklärung
fordert und uns zum Misstrauen gegen den Idealismus verführen
könnte, liegt gerade und ganz allein nur in der mathematischen 30
Strenge und Unverbrüchlichkeit der Zeit- und Raum-Vorstellun-
gen. Diese aber produciren wir in uns und aus uns mit jener Noth-
wendigkeit, mit der die Spinne spinnt; wenn wir gezwungen sind,
alle Dinge nur unter diesen Formen zu begreifen, so ist es dann
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nicht mehr wunderbar, dass wir an allen Dingen eigentlich nur
eben diese Formen begreifen: denn sie alle müssen die Gesetze der
Zahl an sich tragen, und die Zahl gerade ist das Erstaunlichste in
den Dingen. Alle Gesetzmässigkeit, die uns im Sternenlauf und
im chemischen Process so imponirt, fällt im Grund mit jenen 5
Eigenschaften zusammen, die wir selbst an die Dinge heranbrin-
gen, so dass wir damit uns selber imponiren. Dabei ergiebt sich