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Scheibenberger, Sarah; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,3): Kommentar zu Nietzsches "Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69927#0093
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76 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne

wachen Menschen so bunt unregelmässig folgenlos unzusammen-
hängend, reizvoll und ewig neu zu gestalten, wie es die Welt des
Traumes ist. An sich ist ja der wache Mensch nur durch das starre
und regelmässige Begriffsgespinnst darüber im Klaren, dass er 15
wache, und kommt eben deshalb mitunter in den Glauben, er
träume, wenn jenes Begriffsgespinnst einmal durch die Kunst zer-
rissen wird. Pascal hat Recht, wenn er behauptet, dass wir, wenn
uns jede Nacht derselbe Traum käme, davon eben so beschäftigt
würden, als von den Dingen, die wir jeden Tag sehen: „Wenn ein 20
Handwerker gewiss wäre jede Nacht zu träumen volle zwölf
Stunden hindurch, dass er König sei, so glaube ich, sagt Pascal,
dass er eben so glücklich wäre, als ein König welcher alle Nächte
während zwölf Stunden träumte er sei Handwerker". Der wache
Tag eines mythisch erregten Volkes, etwa der älteren Griechen, 25
ist durch das fortwährend wirkende Wunder, wie es der Mythus
annimmt, in der That dem Traume ähnlicher als dem Tag des
wissenschaftlich ernüchterten Denkers. Wenn jeder Baum einmal
als Nymphe reden oder unter der Hülle eines Stieres ein Gott
Jungfrauen wegschleppen kann, wenn die Göttin Athene selbst 30
plötzlich gesehen wird, wie sie mit einem schönen Gespann in der
Begleitung des Pisistratus durch die Märkte Athens fährt - und
das glaubte der ehrliche Athener - so ist in jedem Augenblicke,
wie im Traume, alles möglich, und die ganze Natur umschwärmt
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den Menschen, als ob sie nur die Maskerade der Götter wäre, die
sich nur einen Scherz daraus machten, in allen Gestalten den
Menschen zu täuschen.
Der Mensch selbst aber hat einen unbesiegbaren Hang, sich
täuschen zu lassen und ist wie bezaubert vor Glück, wenn der 5
Rhapsode ihm epische Märchen wie wahr erzählt oder der Schau-
spieler im Schauspiel den König noch königlicher agirt, als ihn die
Wirklichkeit zeigt. Der Intellekt, jener Meister der Verstellung,
ist so lange frei, und seinem sonstigen Sklavendienste enthoben,
als er täuschen kann, ohne zu schaden und feiert dann seine 10
Saturnalien; nie ist er üppiger, reicher, stolzer, gewandter und
verwegener. Mit schöpferischem Behagen wirft er die Metaphern
durcheinander und verrückt die Gränzsteine der Abstraktion, so
dass er z. B. den Strom als den beweglichen Weg bezeichnet, der
den Menschen trägt, dorthin, wohin er sonst geht. Jetzt hat er das 15
 
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