78 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
dürftigkeit, jener Glanz der metaphorischen Anschauungen und 20
überhaupt jene Unmittelbarkeit der Täuschung begleitet alle
Aeusserungen eines solchen Lebens. Weder das Haus, noch der
Schritt, noch die Kleidung, noch der thönerne Krug verrathen,
dass die Nothdurft sie erfand; es scheint so als ob in ihnen allen
ein erhabenes Glück und eine olympische Wolkenlosigkeit und 25
gleichsam ein Spielen mit dem Ernste ausgesprochen werden
sollte. Während der von Begriffen und Abstractionen geleitete
Mensch durch diese das Unglück nur abwehrt, ohne selbst aus den
Abstraktionen sich Glück zu erzwingen, während er nach mög-
lichster Freiheit von Schmerzen trachtet, erntet der intuitive 30
Mensch, inmitten einer Kultur stehend, bereits von seinen Intui-
tionen, äusser der Abwehr des Uebels eine fortwährend einströ-
mende Erhellung, Aufheiterung, Erlösung. Freilich leidet er hef-
tiger, wenn er leidet; ja er leidet auch öfter, weil er aus der
1189011
Erfahrung nicht zu lernen versteht und immer wieder in dieselbe
Grube fällt, in die er einmal gefallen. Im Leide ist er dann ebenso
unvernünftig wie im Glück, er schreit laut und hat keinen Trost.
Wie anders steht unter dem gleichen Missgeschick der stoische, an
der Erfahrung belehrte, durch Begriffe sich beherrschende Mensch 5
da! Er, der sonst nur Aufrichtigkeit, Wahrheit, Freiheit von Täu-
schungen und Schutz vor berückenden Ueberfällen sucht, legt
jetzt, im Unglück, das Meisterstück der Verstellung ab, wie jener
im Glück; er trägt kein zuckendes und bewegliches Menschenge-
sicht, sondern gleichsam eine Maske mit würdigem Gleichmaasse 10
der Züge, er schreit nicht und verändert nicht einmal seine
Stimme. Wenn eine rechte Wetterwolke sich über ihn ausgiesst, so
hüllt er sich in seinen Mantel und geht langsamen Schrittes unter
ihr davon.
dürftigkeit, jener Glanz der metaphorischen Anschauungen und 20
überhaupt jene Unmittelbarkeit der Täuschung begleitet alle
Aeusserungen eines solchen Lebens. Weder das Haus, noch der
Schritt, noch die Kleidung, noch der thönerne Krug verrathen,
dass die Nothdurft sie erfand; es scheint so als ob in ihnen allen
ein erhabenes Glück und eine olympische Wolkenlosigkeit und 25
gleichsam ein Spielen mit dem Ernste ausgesprochen werden
sollte. Während der von Begriffen und Abstractionen geleitete
Mensch durch diese das Unglück nur abwehrt, ohne selbst aus den
Abstraktionen sich Glück zu erzwingen, während er nach mög-
lichster Freiheit von Schmerzen trachtet, erntet der intuitive 30
Mensch, inmitten einer Kultur stehend, bereits von seinen Intui-
tionen, äusser der Abwehr des Uebels eine fortwährend einströ-
mende Erhellung, Aufheiterung, Erlösung. Freilich leidet er hef-
tiger, wenn er leidet; ja er leidet auch öfter, weil er aus der
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Erfahrung nicht zu lernen versteht und immer wieder in dieselbe
Grube fällt, in die er einmal gefallen. Im Leide ist er dann ebenso
unvernünftig wie im Glück, er schreit laut und hat keinen Trost.
Wie anders steht unter dem gleichen Missgeschick der stoische, an
der Erfahrung belehrte, durch Begriffe sich beherrschende Mensch 5
da! Er, der sonst nur Aufrichtigkeit, Wahrheit, Freiheit von Täu-
schungen und Schutz vor berückenden Ueberfällen sucht, legt
jetzt, im Unglück, das Meisterstück der Verstellung ab, wie jener
im Glück; er trägt kein zuckendes und bewegliches Menschenge-
sicht, sondern gleichsam eine Maske mit würdigem Gleichmaasse 10
der Züge, er schreit nicht und verändert nicht einmal seine
Stimme. Wenn eine rechte Wetterwolke sich über ihn ausgiesst, so
hüllt er sich in seinen Mantel und geht langsamen Schrittes unter
ihr davon.