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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0054
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Überblickskommentar 31

den, so dass im Folgenden zumeist der unproblematische, weil übergreifende
Ausdruck ,Abschnitte' für die durchnummerierten und mit Überschriften verse-
henen Prosatexte in den fünf Büchern von FW gebraucht wird, seien es nun
Aphorismen, Sentenzen, Kurzessays, Dialoge, Parabeln oder anderes. Zu beto-
nen ist, dass N. keinen einheitlichen ,aphoristischen' Schreibstil ausbildete,
sondern sich einer Vielfalt von Ausdrucksformen bediente, wovon auch und
gerade FW zeugt. In EH wird schließlich sogar ganz unbescheiden „die viel-
fachste Kunst des Stils überhaupt" beansprucht, „über die je ein Mensch ver-
fügt hat" (KSA 6, 304, 11 f.). Zumindest kann man N. tatsächlich das Vermögen
attestieren, souverän zwischen unterschiedlichen Stilen und Textsorten zu
wechseln. Als ,Dichterphilosoph' hat er mit den etablierten Konventionen
des systematischen Philosophierens gebrochen und das Register der philoso-
phischen Schreibweisen erheblich erweitert bzw. in Richtung Literatur ver-
schoben.
In dieser Hinsicht kann FW als ,repräsentatives' Werk N.s gelten: Der Kos-
mos seines Gesamtwerks konstituiert sich aus einer Vielfalt von Textgenres
und -formen, zu denen nicht zuletzt Gedichte gehören, wie unter seinen zu
Lebzeiten veröffentlichten Schriften vor allem FW zeigt. Die lyrischen Texte
sind hierbei, wie schon gesagt, deutlich vom ,Haupttext' abgesetzt, erfüllen
aber in Bezug auf ihn auch spezifische selbstreflekteriende und rezeptionslen-
kende Funktionen als ,Motto', „Vorspiel" und „Anhang". Es handelt sich also
um lyrische ,Paratexte', deren Verhältnis zum prosaischen ,Haupttext' eigene
Perspektiven eröffnet und besondere Interpretationsanstrengungen herausfor-
dert. So hat etwa Heinrich Detering mit Blick auf den lyrischen „Anhang" der
Neuausgabe von FW gute Gründe dafür angeführt, dass diese „Lieder", mit
denen sich laut FW Vorrede 1 „ein Dichter auf eine schwer verzeihliche Weise
über alle Dichter lustig macht" (346, 23 f.), zumindest aus der epilogischen Per-
spektive von FW 383 nicht bloß „Appendix, sondern Ziel des Buches" sein
könnten (Detering 2015, 156). Das Wechselspiel von Lyrik und Prosa führt also
zu Brechungen, die ein neues Licht auch auf Themen, Motive und sogar auf
den Status des ,Haupttextes' werfen.
Umgekehrt reflektieren einzelne Abschnitte im ,Haupttext' von FW, vor al-
lem im Zweiten Buch, selbst wiederholt die unterschiedlichen Aussagemodi
von lyrisch-poetischem und prosaisch-philosophischem Sprechen. Doch sind
diese auktorialen Selbstreflexionen durch Ambivalenzen und Widersprüche
gekennzeichnet. Immer wieder kommen die Prosatexte auf das Verhältnis von
Ästhetik und Erkenntnis, Kunst und Philosophie, Dichtung und Wissenschaft
zu sprechen und formulieren hierüber unterschiedliche, ja gegensätzliche Ur-
teile. Kunst und Dichtung gelten bisweilen als überlegene Erkenntnisformen
(vgl. FW Vorrede 4, FW 78), sie werden aber ebenso als notwendige und lebens-
 
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