36 Die fröhliche Wissenschaft
sprechen: Oft reklamieren die Sprechinstanzen seiner Texte zwar die souve-
räne Überschau einer Vogel- oder Metaperspektive auf die Geschichte, die
Menschheit, die Wissenschaft usw., verstricken sich dabei aber in auffällige
argumentationslogische Widersprüche, die den Eindruck wecken, als fehle
die Übersicht über den eigenen Gedankengang.
Angesichts der aus philosophischer Sicht bestehenden Gefahr, bei einer
solchen ,textistischen' Betrachtungsweise könne sich N.s ,Philosophie' gänz-
lich in Luft auflösen, hat Andreas Urs Sommer in seiner Freiburger Antrittsvor-
lesung Was bleibt von Nietzsches Philosophie? vom Juli 2017 den umsichtigen
Vermittlungsvorschlag unterbreitet, Philosophie bei N. „nicht als ein festste-
hendes Gefüge von Gedanken, ein wohlproportioniertes Gestell von Propositio-
nen, sondern vielmehr als Prozess, als Bewegung" zu verstehen: als ein nur im
Vollzug, nicht als Resultat zu habendes Philosophieren, das „sich weniger über
Inhalte, eher über Verfahren beschreiben" lässt (Sommer 2019b, 109). Dem ist
zweifellos und insbesondere mit Blick auf den Denk- und Schreibstil von FW
zuzustimmen; und wenn sich dadurch, dass „das Versprechen auf Kohärenz in
den Texten ebenso wenig eingelöst wird wie dasjenige definitiver Lehren", laut
Sommer „ein philosophisches Nachdenken" herausgefordert sieht (ebd., 111),
das sich von N.s Denkbewegungen irritieren lässt, so setzt dies offenkundig
eine sehr genaue, sorgfältige Textlektüre voraus, die den Unterschied zwischen
philosophischer und philologisch-hermeneutischer Interpretation tendenziell
ebenso aufhebt, wie die zugrunde liegenden Texte selbst schon die Differenz
zwischen Philosophie und Literatur nivellieren.
Bei aller angebrachten Vorsicht gegenüber einer vorschnellen Gleichset-
zung N.s mit den Sprechinstanzen in seinen Texten, zumal in den späten Vorre-
den zu Neuausgaben seiner älteren Werke, kann sich eine ,philologische' N.-
Interpretation auf verschiedene Äußerungen in seinen Werken berufen. Eine
davon stammt aus der (wie FW Vorrede) im Herbst 1886 entstandenen Vorrede
zur früheren ,Schwesterschrift' M, wo die „Philologie" als eine „ehrwürdige
Kunst" des gründlichen Lesens gepriesen wird, „als eine Goldschmiedekunst
und -kennerschaft des Wortes, die lauter feine vorsichtige Arbeit abzuthun
hat" (KSA 3, 17, 17-20). Am Ende des Textes ruft das auktoriale Ich seinen
potentiellen Rezipienten zu: „Meine geduldigen Freunde, dies Buch wünscht
sich nur vollkommene Leser und Philologen: lernt mich gut lesen! -" (KSA 3,
17, 30-32) Selbst wenn man diese Lektüreanweisung vor allem als Reminiszenz
an die einstige philologische Ausbildung sowie Lehr- und Forschungstätigkeit
N.s verstehen mag (vgl. NK KSA 3, 17, 10 f.), sollte dennoch nicht übersehen
werden, dass die Forderung nach einer (auch) philologischen Lektüre- bzw.
Interpretationspraxis der dadurch zu erschließenden ,Aphorismen-Sammlung'
ihrerseits implizit einen literarischen Charakter zuschreibt, wie man ihn eben-
falls den Prosatexten von FW attestieren kann.
sprechen: Oft reklamieren die Sprechinstanzen seiner Texte zwar die souve-
räne Überschau einer Vogel- oder Metaperspektive auf die Geschichte, die
Menschheit, die Wissenschaft usw., verstricken sich dabei aber in auffällige
argumentationslogische Widersprüche, die den Eindruck wecken, als fehle
die Übersicht über den eigenen Gedankengang.
Angesichts der aus philosophischer Sicht bestehenden Gefahr, bei einer
solchen ,textistischen' Betrachtungsweise könne sich N.s ,Philosophie' gänz-
lich in Luft auflösen, hat Andreas Urs Sommer in seiner Freiburger Antrittsvor-
lesung Was bleibt von Nietzsches Philosophie? vom Juli 2017 den umsichtigen
Vermittlungsvorschlag unterbreitet, Philosophie bei N. „nicht als ein festste-
hendes Gefüge von Gedanken, ein wohlproportioniertes Gestell von Propositio-
nen, sondern vielmehr als Prozess, als Bewegung" zu verstehen: als ein nur im
Vollzug, nicht als Resultat zu habendes Philosophieren, das „sich weniger über
Inhalte, eher über Verfahren beschreiben" lässt (Sommer 2019b, 109). Dem ist
zweifellos und insbesondere mit Blick auf den Denk- und Schreibstil von FW
zuzustimmen; und wenn sich dadurch, dass „das Versprechen auf Kohärenz in
den Texten ebenso wenig eingelöst wird wie dasjenige definitiver Lehren", laut
Sommer „ein philosophisches Nachdenken" herausgefordert sieht (ebd., 111),
das sich von N.s Denkbewegungen irritieren lässt, so setzt dies offenkundig
eine sehr genaue, sorgfältige Textlektüre voraus, die den Unterschied zwischen
philosophischer und philologisch-hermeneutischer Interpretation tendenziell
ebenso aufhebt, wie die zugrunde liegenden Texte selbst schon die Differenz
zwischen Philosophie und Literatur nivellieren.
Bei aller angebrachten Vorsicht gegenüber einer vorschnellen Gleichset-
zung N.s mit den Sprechinstanzen in seinen Texten, zumal in den späten Vorre-
den zu Neuausgaben seiner älteren Werke, kann sich eine ,philologische' N.-
Interpretation auf verschiedene Äußerungen in seinen Werken berufen. Eine
davon stammt aus der (wie FW Vorrede) im Herbst 1886 entstandenen Vorrede
zur früheren ,Schwesterschrift' M, wo die „Philologie" als eine „ehrwürdige
Kunst" des gründlichen Lesens gepriesen wird, „als eine Goldschmiedekunst
und -kennerschaft des Wortes, die lauter feine vorsichtige Arbeit abzuthun
hat" (KSA 3, 17, 17-20). Am Ende des Textes ruft das auktoriale Ich seinen
potentiellen Rezipienten zu: „Meine geduldigen Freunde, dies Buch wünscht
sich nur vollkommene Leser und Philologen: lernt mich gut lesen! -" (KSA 3,
17, 30-32) Selbst wenn man diese Lektüreanweisung vor allem als Reminiszenz
an die einstige philologische Ausbildung sowie Lehr- und Forschungstätigkeit
N.s verstehen mag (vgl. NK KSA 3, 17, 10 f.), sollte dennoch nicht übersehen
werden, dass die Forderung nach einer (auch) philologischen Lektüre- bzw.
Interpretationspraxis der dadurch zu erschließenden ,Aphorismen-Sammlung'
ihrerseits implizit einen literarischen Charakter zuschreibt, wie man ihn eben-
falls den Prosatexten von FW attestieren kann.