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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Contr.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0060
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Überblickskommentar 37

Doch wenngleich diese sich als - höchst variantenreiche - Äußerungswei-
sen einer literarischen Philosophie oder philosophischen Literatur verstehen
lassen, ist der formale Unterschied zwischen den prosaischen und den lyri-
schen Texten in FW keinesfalls zu vernachlässigen. Der Wechsel in den Modus
versgebundenen Sprechens kann durchaus bedeuten, dass in der lyrischen
Gattung alternative Artikulationsmöglichkeiten gegenüber der ,aphoristischen'
Ausdrucksform erprobt werden. Indes griffe es entschieden zu kurz, die philo-
sophisch-literarische Prosa des ,Haupttextes' der Lyrik der ,Paratexte' als ,rei-
ner' Literatur gegenüberzustellen. Die Synthese von Philosophie und Literatur
betrifft nicht nur die Prosa, sondern mutatis mutandis ebenso sehr die Lyrik in
FW: Es handelt sich um philosophische Lyrik bzw. um lyrische Philosophie.
Mit der formalen Differenz zwischen Prosa und Lyrik ist bei N. keine grundsätz-
liche inhaltliche Differenz verbunden; in beiden Gattungen können dieselben
oder ähnliche Themen verhandelt werden, wenngleich sich das Wie des Spre-
chens dabei natürlich unterscheidet. Dies betrifft aber nicht den Rollencharak-
ter der Rede: Die lyrischen Ichs dieser Texte sind mitnichten „noch weniger"
(Benne 2015a, 42) mit dem empirischen Autor N. gleichzusetzen als die Sprech-
instanzen seiner Prosa, sondern schlicht genauso wenig. Besonders deutlich
wird dies, wenn einzelne Texte zunächst als ,Aphorismen' konzipiert und dann
erst in die lyrische Form umgegossen werden, wie es beispielsweise bei etli-
chen Gedichten von FW Vorspiel der Fall ist. Dass „das Epigramm [...] als Vers-
form des Aphorismus" erscheint, notiert deshalb Wuthenow 1982, 299. Eben-
falls mit Blick auf den lyrischen Eröffnungszyklus bemerkt Benne 2015a, 29
selbst eine auch formale Gemeinsamkeit mit den nachfolgenden Prosatexten:
„Sogar typographisch markiert Nietzsche die Verwandtschaft zu den Aphoris-
men, indem die Titel der Gedichte nicht nur ebenfalls gesperrt, sondern mit für
Gedichttitel sonst unüblichen Punkten versehen sind." Diese typographisch-
interpunktorische Ähnlichkeit - lediglich der bei den ,Aphorismen' obligatori-
sche Gedankenstrich nach dem Titel fehlt im Fall der Gedichte - gilt freilich
nicht nur für FW Vorspiel, sondern ebenso sehr für FW Anhang.

4 Struktur und Gehalt
Da FW 1887 in zweiter, stark erweiterter Ausgabe erschienen ist, die sich durch
wichtige Teile des Werks (Vorrede, Fünftes Buch, Anhang) von der 1882 veröf-
fentlichten Erstausgabe unterscheidet, auch wenn der restliche Text unverän-
dert blieb, gibt es streng genommen zwei Werkstrukturen. Die folgende - grob
skizzierende - Überblicksdarstellung geht zwar von der zweiten Ausgabe aus,
die auch in KSA 3 abgedruckt ist und die heute geläufige Version darstellt,
 
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