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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Contr.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0069
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46 Die fröhliche Wissenschaft

Förster-Nietzsche, 26.01. 1887, KSB 8/KGB III 5, Nr. 794, S. 15, Z. 66; vgl. auch
den Brief an Heinrich Köselitz vom 13. Februar 1887, KSB 8/KGB III 5, Nr. 800,
S. 23, Z. 23-25). Vor dem Hintergrund der in N.s Werk häufiger begegnenden
Assoziation von Dichter- und Narrentum enthält FW Vorrede einige Hinweise
darauf, was mit der „Liederlichkeit" von FW Anhang gemeint sein könnte,
nämlich „etwas Thorheit, Ausgelassenheit, ,fröhliche Wissenschaft"'. Konkre-
ter noch heißt es hier, es handle sich um „Lieder, in denen sich ein Dichter
[...] über alle Dichter lustig macht", vor allem über „ihre schönen lyrischen
Gefühle'" (346, 20-25).
Obwohl man prinzipiell gut beraten ist, vermeintlichen Selbstdeutungen
N.s mit Skepsis zu begegnen (vgl. NK 619, 9-15), trifft diese Aussage doch etwas
Wesentliches. Kein Geringerer als der deutsche ,Dichterfürst' Goethe wird
gleich im Eröffnungsgedicht „An Goethe" zur unverkennbaren Zielscheibe
des Spotts, wenn ihm in der formal und inhaltlich die Schlussverse von Faust
II parodierenden ersten Strophe vorgehalten wird, dass „Gott der Verfängli-
che / [...] Dichter-Erschleichniss" ist (639, 6 f.). Zugleich zeichnet sich das Rol-
len-Ich ,Prinz Vogelfrei', das in der Logik der Autorfiktion als ,Sänger' der vor-
liegenden „Lieder" figuriert, nicht zuletzt durch ein ironisches Selbstverhältnis
aus. Nicht nur die schönen oder erhabenen Gefühle anderer Lyriker werden
mit Sarkasmus bedacht, sondern das lyrische Dichtertum überhaupt, auch das
eigene. So erscheint es im zweiten Gedicht „Dichters Berufung" als ein
ziemlich zwielichtiges Sprechen „im Tiktak" (639, 24), und das lyrische Ich
selbst fragt sich, ob es denn wirklich mit seinem „Kopf so schlecht" stehe (640,
6), dass es in Versen sprechen muss. Überhaupt nicht mehr gebunden an „Ver-
nunft" (641, 25) und „Wahrheit" (642, 11) fühlt sich der ,Sänger' im anschlie-
ßenden Text „Im Süden", während das sechste Gedicht schon durch den
poetologisch-selbstkommentierenden Titel „Liebeserklärung / (bei der
aber der Dichter in eine Grube fiel -)" auf ironische Distanz zu sich
und seinem poetischen Sujet geht. Freilich hat die dichterische Dichterverspot-
tung in FW Anhang, auf die FW Vorrede abstellt, auch ihre Grenzen, die in
verschiedene Richtungen hin überschritten werden: Weit entfernt davon, sich
bloß „über [...] Dichter lustig" zu machen, kann der ,singende' Prinz Vogelfrei
seine kaustische Energie im neunten Gedicht „Narr in Verzweiflung"
ebenso auf die philosophischen „Ueberweisen" richten (646, 25); er kann aber
auch im darauf folgenden „Rimus remedium" seine poetischen Selbsthei-
lungskräfte angesichts des Leidens an der langsam tropfenden Zeit beschwö-
ren (vgl. 647, 4 f.), im elften Gedicht ,„Mein Glück!"' den erfüllten Augen-
blick vormittäglichen Dichtens besingen, im vorletzten Text „Sils-Maria" die
Entstehung der Zarathustra-Figur aus einem epiphanischen Inspirationserleb-
nis erinnern oder im Schlussgedicht „An den Mistral" das poetologische
 
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