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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Contr.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0099
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76 Die fröhliche Wissenschaft

regaya Companhia del Gai Saber von sieben wohlhabenden Bürgern (den sie-
ben Trobadors') ein Dichterkreis gegründet, der darum bemüht war, die ältere
Tradition der okzitanischen Trobador-Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts zu
bewahren und fortzuführen. Ausgehend von den poetologischen Regeln, die
Guilhem Molinier in seinem Werk Leys d'Amor (1328) formulierte, wurden jähr-
liche Dichterwettstreite unter dem Titel Joes Florals (,Blumenspiele', Jeux Flo-
raux) veranstaltet (vgl. Bernsen 2006, 1988). Nach diesem Vorbild folgte 70 Jah-
re später, im Jahr 1393, auf Anordnung von Johann I. von Aragon (1330-1396)
in Barcelona die Gründung eines Consistori de la Gaia Ciencia. Die bei N. mehr-
fach begegnenden Formeln „gai saber" und „gaya scienza" stammen nicht aus
der ursprünglichen Trobadorkultur selbst, sondern kommen erst mit der Grün-
dung des Consistori del Gai Saber in Toulouse sowie des - weniger bekannten -
Consistori de la Gaia Ciencia in Barcelona als programmatische (Selbst-)Be-
zeichnungen auf.
Zwar hätte sich N. bereits in Julius Leopold Kleins Geschichte des italieni-
schen Drama's von 1866 darüber informieren können, dass mit dem Ausdruck
„gai-saber [...] die Akademie von Toulouse die Poesie der Troubadoure" erst
„nach dem Verfall derselben (1290) nannte" (Klein 1866, 60; vgl. auch Ambros
1862-1868, 216, wo ebenfalls auf das vergleichsweise späte Aufkommen der
entsprechenden Wendungen hingewiesen wird: „art de trobar, später gay sa-
ber oder gaya ciencia, die fröhliche Wissenschaft"). Anscheinend hat N. dies
aber nicht zur Kenntnis genommen. Wenn er die Formeln „gaya scienza" (seit
1881) und „gai saber" (seit Frühjahr 1885; s. u.) verwendet, meint er jedenfalls
nicht den späteren Wiederbelebungsversuch', sondern die ältere Trobadorkul-
tur des Hochmittelalters (vgl. hierzu Mölk 1982, 5). Dies wird deutlich, wenn
etwa in JGB von „den provengalischen Ritter-Dichtern" geschwärmt wird: von
„jenen prachtvollen erfinderischen Menschen des ,gai saber', denen Europa
so Vieles und beinahe sich selbst verdankt" (JGB 260, KSA 5, 212, 20-23; vgl.
NK 5/1, S. 753-755), oder wenn es in EH über die Lieder des Prinzen Vogelfrei
heißt, sie „erinnern ganz ausdrücklich an den provengalischen Begriff der
,gaya scienza', an jene Einheit von Sänger, Ritter und Freigeist, mit der
sich jene wunderbare Frühkultur der Provenzalen gegen alle zweideutigen Cul-
turen abhebt" (EH FW, KSA 6, 333, 24-334, 3). Der Hinweis auf die „Frühkultur
der Provenzalen" macht hinreichend deutlich, dass N. nicht den Dichterkreis
Consistori del Gai Saber, sondern die ,authentischen' Trobadors im Sinn hat.
Indes war es zu N.s Zeit nicht unüblich, die spätere Wendung auf die frühere
Tradition zurückzubeziehen; noch in der jüngeren Forschung bezeichnen eini-
ge Romanisten die altokzitanische Trobador-Lyrik anachronistisch als „fröhli-
che Wissenschaft" (vgl. bes. Mancini 2009).
Dass N. von Anfang an die provenzalische Trobadordichtung vor Augen
hatte, als er den Titel für sein Werk wählte, belegt eine Aussage aus seinem
 
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