Stellenkommentar FW Motto 1887, KSA 3, S. 343 91
1989, 93 sieht in dem Motto-Gedicht ebenfalls einen Rekurs auf Goethe, aber
auf ein Gedicht aus dem Buch der Sprüche des West-östlichen Divan: „Herr, laß
dir gefallen / Dieses kleine Haus, / Größer kann man bauen, / Mehr kommt
nicht heraus." (Goethe 1853-1858, 4, 68) Während aus dem Divan-Gedicht je-
doch der „selbstbewußte Stolz des Hauseigentümers, mehr noch des Hauser-
bauers [spricht], dessen Rolle dem Dichter zukommt", sei in N.s Mottoversen
„diese Anmaßung eines Originalgenies [...] selbstironisch aufgehoben" (Aurn-
hammer 1989, 93).
Auf die subjektivistische Autonomie- und Produktionsästhetik der Genie-
zeit scheint ebenfalls die Zurückweisung der Nachahmung (imitatio) hinzudeu-
ten, die im zweiten Vers erfolgt. Allerdings stolpert der Leser über die eigen-
tümliche dreifache Negation (und damit verbundene vierfache Alliteration)
„Niemandem nie nichts nachgemacht". Zwar kann die doppelte und ebenso
die dreifache Negation in der deutschen Umgangssprache durchaus auch als
einfache bzw. bekräftigte Verneinung fungieren (sog. Negationskonkordanz, im
Standarddeutschen heute weitgehend veraltetet, in deutschen Regionalspra-
chen und Dialekten noch immer gebräuchlich). So bedient sich ihrer etwa Mo-
ritz Meurer in seinem Buch Luther's Leben, das Carl von Gersdorff N. in seinem
Brief vom 20. Januar 1874 empfiehlt (vgl. KGB II 4, Nr. 503, S. 380, Z. 79 f.):
„Weil [...] Niemand nie nichts Uebles wolle gethan haben" (Meurer 1870, 454).
Allerdings lässt sich die doppelte Negation „nie nichts" auch logisch als Beja-
hung (= ,immer etwas') lesen; dann würde die dreifache Negation „Niemandem
nie nichts nachgemacht" bedeuten: ,Niemandem immer etwas nachgemacht'
(vgl. dagegen die Bemerkung von Stegmaier 2012b, 59: „,Niemanden [sic] nie'
könnte ja auch heißen ,immer jemanden'", wobei das folgende „nichts" merk-
würdigerweise unberücksichtigt bleibt). Es ist davon auszugehen, dass N. die-
se Doppeldeutigkeit gezielt als sprachliche Kippfigur nutzt: In der ersten Lesart
wird behauptet, dass der Sprecher niemals jemandem etwas nachgemacht hat,
in der zweiten hingegen lediglich, dass er nicht immer jemandem etwas nach-
gemacht hat. Die auf den ersten Blick so selbstbewusst behauptete Originalität
schrumpft in dieser zweiten möglichen Lesart merklich zusammen: auf immer-
hin einige Stellen, an denen keine imitatio vorliegt. Insofern würde die zweite
die erste Verszeile relativieren, so dass doch auch hier - wenngleich in völlig
säkularisiertem Sinn - die alte Haus-/Spruchinschrift gälte: „Dies Haus ist
mein und doch nicht mein". Die zweite Gedichthälfte, bestehend aus den Ver-
sen 3 und 4, bekräftigt und reflektiert dies durch die Forderung der ironischen
Selbstrelativierung, des Über-sich-selbst-Lachen-Könnens.
Zu dieser postulierten Selbstzurücknahme passt sehr gut eine ähnliche,
ebenfalls auf die oben erwähnte Tradition von Haus-/Spruchinschriften rekur-
rierende Stelle in M 547, wo es nämlich am Schluss heißt: „,Was liegt an mir!' -
1989, 93 sieht in dem Motto-Gedicht ebenfalls einen Rekurs auf Goethe, aber
auf ein Gedicht aus dem Buch der Sprüche des West-östlichen Divan: „Herr, laß
dir gefallen / Dieses kleine Haus, / Größer kann man bauen, / Mehr kommt
nicht heraus." (Goethe 1853-1858, 4, 68) Während aus dem Divan-Gedicht je-
doch der „selbstbewußte Stolz des Hauseigentümers, mehr noch des Hauser-
bauers [spricht], dessen Rolle dem Dichter zukommt", sei in N.s Mottoversen
„diese Anmaßung eines Originalgenies [...] selbstironisch aufgehoben" (Aurn-
hammer 1989, 93).
Auf die subjektivistische Autonomie- und Produktionsästhetik der Genie-
zeit scheint ebenfalls die Zurückweisung der Nachahmung (imitatio) hinzudeu-
ten, die im zweiten Vers erfolgt. Allerdings stolpert der Leser über die eigen-
tümliche dreifache Negation (und damit verbundene vierfache Alliteration)
„Niemandem nie nichts nachgemacht". Zwar kann die doppelte und ebenso
die dreifache Negation in der deutschen Umgangssprache durchaus auch als
einfache bzw. bekräftigte Verneinung fungieren (sog. Negationskonkordanz, im
Standarddeutschen heute weitgehend veraltetet, in deutschen Regionalspra-
chen und Dialekten noch immer gebräuchlich). So bedient sich ihrer etwa Mo-
ritz Meurer in seinem Buch Luther's Leben, das Carl von Gersdorff N. in seinem
Brief vom 20. Januar 1874 empfiehlt (vgl. KGB II 4, Nr. 503, S. 380, Z. 79 f.):
„Weil [...] Niemand nie nichts Uebles wolle gethan haben" (Meurer 1870, 454).
Allerdings lässt sich die doppelte Negation „nie nichts" auch logisch als Beja-
hung (= ,immer etwas') lesen; dann würde die dreifache Negation „Niemandem
nie nichts nachgemacht" bedeuten: ,Niemandem immer etwas nachgemacht'
(vgl. dagegen die Bemerkung von Stegmaier 2012b, 59: „,Niemanden [sic] nie'
könnte ja auch heißen ,immer jemanden'", wobei das folgende „nichts" merk-
würdigerweise unberücksichtigt bleibt). Es ist davon auszugehen, dass N. die-
se Doppeldeutigkeit gezielt als sprachliche Kippfigur nutzt: In der ersten Lesart
wird behauptet, dass der Sprecher niemals jemandem etwas nachgemacht hat,
in der zweiten hingegen lediglich, dass er nicht immer jemandem etwas nach-
gemacht hat. Die auf den ersten Blick so selbstbewusst behauptete Originalität
schrumpft in dieser zweiten möglichen Lesart merklich zusammen: auf immer-
hin einige Stellen, an denen keine imitatio vorliegt. Insofern würde die zweite
die erste Verszeile relativieren, so dass doch auch hier - wenngleich in völlig
säkularisiertem Sinn - die alte Haus-/Spruchinschrift gälte: „Dies Haus ist
mein und doch nicht mein". Die zweite Gedichthälfte, bestehend aus den Ver-
sen 3 und 4, bekräftigt und reflektiert dies durch die Forderung der ironischen
Selbstrelativierung, des Über-sich-selbst-Lachen-Könnens.
Zu dieser postulierten Selbstzurücknahme passt sehr gut eine ähnliche,
ebenfalls auf die oben erwähnte Tradition von Haus-/Spruchinschriften rekur-
rierende Stelle in M 547, wo es nämlich am Schluss heißt: „,Was liegt an mir!' -