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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0167
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144 Die fröhliche Wissenschaft

len umarmen und durchaus Alles, was mit guten Gründen verdeckt gehalten wird,
entschleiern, aufdecken, in helles Licht stellen wollen. Nein, dieser schlechte Ge-
schmack, dieser Wille zur Wahrheit, zur „ Wahrheit um jeden Preis", dieser Jüng-
lings-Wahnsinn in der Liebe zur Wahrheit - ist uns verleidet: dazu sind wir zu
erfahren, zu ernst, zu lustig, zu gebrannt, zu tief... Wir glauben nicht mehr daran,
dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht; wir ha-
ben genug gelebt, um dies zu glauben. Heute gilt es uns als eine Sache der Schick-
lichkeit, dass man nicht Alles nackt sehn, nicht bei Allem dabei sein, nicht Alles
verstehn und „wissen" wolle. „Ist es wahr, dass der liebe Gott überall zugegen
ist?" fragte ein kleines Mädchen seine Mutter: „aber ich finde das unanstän-
dig" - ein Wink für Philosophen! Man sollte die Scham besser in Ehren halten,
mit der sich die Natur hinter Räthsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat.
Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehn zu
lassen? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo?... Oh diese Griechen!
Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu thut Noth, tapfer bei der Oberfläche,
der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an
Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen
waren oberflächlich - aus Tiefe! Und kommen wir nicht eben darauf zurück,
wir Wagehalse des Geistes, die wir die höchste und gefährlichste Spitze des ge-
genwärtigen Gedankens erklettert und uns von da aus umgesehn haben, die wir
von da aus hinabgesehn haben? Sind wir nicht eben darin - Griechen? Anbe-
ter der Formen, der Töne, der Worte? Eben darum - Künstler?] Vgl. als ,Vorstufe'
hierzu, die aber wohl zunächst als „Nachtrag" zu dem späteren Abschnitt
FW 379 gedacht war, mit dem zwischenzeitlich das Fünfte Buch enden sollte
(siehe ΝΚ FW 379), das Notat KGW IX 12, Mp XV, 95r, 2-34: „NB! Schluß des
letzten Abschnittes! / ... Oh wenn ihr ganz begreifen könntet, warum 'gerade™
wir 'die Kunst brauchen —' gerade eine solche "und zwar eine™ spöttische und
göttlich unbehelligte™ Kunst! Jieben-und nöthig haben! 'Und-warum wir ganz
und gar keine '^RomantikeR mehr sind!™ 'die wie eine helle Flamme in einen
unbewölkten Him[mel] hineinlodert™ Sind wir nicht allzu=/lange Solchen
gleich gewesen 'In unsrer Jugend mögen wir allzulange jenen Schwärmern ge-
glichen haben,™, die Nachts Tempel unsicher machen, die 'heimlich™ Bildsäu-
len umarmen und durchaus Alles, was mit / guten Gründen verdeckt gehalten
wird, entschleiern, wollen? Laufdecken, in helles Licht stellen müssen -J 'je-
nen Freunden der Wahrheit um jeden Preis, den Romantikern der Erkenntniß!™
Ach, dies Gelüst ist uns vergangen, dieser Jünglings=Wahn=/sinn, in der Liebe,
dieser ägyptische Ernst, dieser schauerliche ,Wille zur Wahrheit' macht uns
Schrecken noch in der Erin=/nerung! Wir glauben nicht mehr daran, daß
Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht, wir ha=/
ben Gründe, dies zu glauben ... Heute gilt es uns als eine Sache der Schicklich-
 
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