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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Contr.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0169
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146 Die fröhliche Wissenschaft

renen tiefen Wissen der Philosophie, von dem der vorige Abschnitt der Vorrede
handelte, wird hier „die Heiterkeit" (351, 30) einer unbeschwerten, nicht-wis-
senden Kunst gegenübergestellt, wobei beide in ein Abfolgeverhältnis gebracht
werden: Die Kunst soll dem Vergessen des Zu-gut-Gewussten dienen; ihre Hei-
terkeit hat demnach entlastende Funktion. Damit distanziert sich das Wir von
dem in Abschnitt 3 noch affirmativ vorgetragenen Verständnis von Philosophie
als ,anamnetischer' Verinnerlichung des schmerzhaften Hinabsteigens „in
unsre letzte Tiefe" (350, 11). Dieser ,Selbstergründung', die den Philosophen zu
einem immer „strenger" und „härter" Fragenden verwandelt, d.h. trans-
figuriert (350, 25), wird das Vergessen und Nicht-Wissen der heiteren Kunst
entgegensetzt, zu dessen Einübung das Wir sich „nunmehr" verstehen will. Die
philosophische Anamnesis wird abgelöst von ästhetischer Amnesie.
351, 34-352, 5 Und was unsere Zukunft betrifft: man wird uns schwerlich wieder
auf den Pfaden jener ägyptischen Jünglinge finden, welche Nachts Tempel unsi-
cher machen, Bildsäulen umarmen und durchaus Alles, was mit guten Gründen
verdeckt gehalten wird, entschleiern, aufdecken, in helles Licht stellen wollen.]
N. kombiniert hier zwei verschiedene Motivtraditionen: das Bildsäulen-Umar-
men und -Entschleiern. Zum ersten Motiv vgl. folgenden Passus aus Arrians
Unterredungen Epiktets mit seinen Schülern: „Müssen wir uns denn deswegen
auch üben, [...] Bildsäulen zu umarmen [...]?" Eine Fußnote vor dem Fragezei-
chen klärt die Infragestellung dieser Praktik auf: „Das Umarmen der Bildsäulen
bestand darin, daß man im härtesten Winter marmorne oder eherne mit Eis
und Schnee bedeckte Bildsäulen mit nackten Körpern umschloß; - ein Helden-
stück, wodurch sich auch Diogenes von Sinope ausgezeichnet haben soll."
(Diatriben III 12, 2 f. = Arrian 1803, 44) Vgl. ebenfalls Epiktets Empfehlung ge-
gen solche öffentlich zur Schau gestellten ,Heldenstücke': „Umfange nie Bild-
säulen, sondern wenn dich einmal heftig dürstet, so nimm kaltes Wasser in
den Mund, und spei es wieder aus, und sag's Niemand." (Encheiridion XLVII
[70] = Epiktet 1783, 80) Erläuterungen hierzu konnte N. in Simplikios' Epiktet-
Kommentar lesen (vgl. Simplikios 1867, 282 f.). In allgemeinem Bezug auf die
Stoiker thematisiert auch das in NK 384, 12 zitierte Notat NL 1881, 15[55] dieses
Bildsäulen-Umarmen.
Zum zweiten, für FW Vorrede noch wichtigeren Motiv des nächtlichen Bild-
säulen-Entschleierns durch ägyptische Jünglinge, das in FW 57, 421, 9 wieder-
kehrt, vgl. den seit der Antike - so bei Plutarch im neunten Teil von De Iside
et Osiride (Plutarch 1827-1861, 28, 1105) - überlieferten und im Aufklärungs-
zeitalter aktualisierten Topos des Isis-Tempels zu Sais, wie er sich etwa in
Kants Kritik der Urteilskraft (1790) (vgl. AA V, 316) und Schillers Abhandlung
Vom Erhabenen (1793) findet. Nach letzterer lautete die Inschrift über dem Tem-
pel der Isis, die seit der Antike als Göttin der All-Natur galt und deren Statue
 
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