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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0541
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518 Die fröhliche Wissenschaft

Die Wand als Mal- oder Schreibfläche begegnet in FW noch an anderen
Stellen und in anderen Bedeutungen. Einen eitlen Künstler, der eigentlich ein
„Meister des ganz Kleinen" ist, aber „die grossen Wände und die verwegene
Wandmalerei" liebt (445, 25-27), präsentiert etwa im Zweiten Buch FW 87. Das
lyrische Ich eines verzweifelten Narren wiederum schreibt in FW Anhang [9]
seine närrischen Botschaften „auf Tisch und Wand" (646, 15).
Zweites Buch
57.
An die Realisten.] Mit den ersten drei Abschnitten (FW 57-59) des Zweiten
Buchs, die eine inhaltlich zusammenhängende Reihe bilden (hierzu Higgins
2000, 80 f. und Verkerk 2019, 131), klingen bereits dessen Hauptthemen an:
Kunst und Künstler sowie ihre ästhetische Weltwahrnehmung (Schein vs. Rea-
lität). Bevor die Abschnitte FW 60-75 mit wenigen Ausnahmen ,Frauen und
Liebe' als damit verwandte Themenfelder traktieren (vgl. Oppel 2005, 91 u.
Franco 2011, 121) und die restlichen Abschnitte von FW II sich dann wieder
ganz auf Fragen der Ästhetik konzentrieren (vgl. Kaufmann in Nietzsche 1974,
130, Anm. 12), geht es in den einleitenden Texten um den Problemkomplex von
Wirklichkeit und Projektion, der aus der Perspektive eines ,erkennenden Ich'
bereits im drittletzten Abschnitt des Ersten Buchs thematisiert worden ist (vgl.
FW 54). Dabei wendet sich der Eröffnungs-Abschnitt des Zweiten Buchs, der
recht häufig zitiert und interpretiert wird (vgl. außer den unten diskutierten
Titeln auch Cox 1994, 102, Düsing 2006, 270 u. 276, Bailey 2010, 56 f., Marton
2010, 281-283, Piazzesi 2011, 140 f., Stegmaier 2012b, 172, Katsafanas 2015b, 169
u. 172, Doyle 2018, 155 und Ponton 2018, 26), dem Weltzugang wirklichkeitsver-
sessener Realisten zu, um in einer Ansprache an diese die quasi künstleri-
schen, projektiven Anteile auch und gerade in deren Weltzugang aufzudecken.
Den dergestalt zum Tragen kommenden ,antirealistischen' Wirklich-
keitsbegriff, dem zufolge vor allem Leidenschaften sowie letztlich auf solchen
basierende Denkgewohnheiten die Wirklichkeitserfahrung des Menschen
maßgeblich beeinflussen (so dass eine objektive Erkenntnis der Dinge ausge-
schlossen ist), formuliert prägnant bereits die folgende ,Vorstufe' aus N V 5,
5: „,Wirklichkeit!' Was ist für einen Verliebten ,wirklich'? Und sind wir nicht
alle auch im nüchternsten Zustande noch höchst leidenschaftliche Thiere im
Vergleich mit den Fischen? Und dann: im kältesten Zustande schätzen wir im-
mer doch die Dinge nach den Gewöhnungen von Jahrtausenden - und diese
Schätzungen haben ihren Ursprung in den Leidenschaften! Wo beginnt da die
wirkliche Welt! Ist jeder Sinneneindruck nicht gewiß auch ein Phantasma, an
 
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