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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0542
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Stellenkommentar FW 56-57, KSA 3, S. 419-421 519

dem das Urtheil und die Leidenschaft aller Menschen-Vergangenheit gearbeitet
hat! Berg! Wolke! Was ist denn ,wirklich' davon! - Dies gegen den Realismus,
der es sich zu leicht macht: er wendet sich an die gröberen Vorurtheile der
Nüchternen, welche meinen, gegen Leidenschaft und Phantasie gewappnet zu
sein." Noch näher an den Wortlaut des gedruckten Textes kommt die ,Vorstufe'
in Μ III 5, 36 f. heran. Die bereits mit dem Titel der Druckfassung versehene,
geringfügig überarbeitete ,Reinschrift' zu FW 57 findet sich in M III 6, 126 f.
Als möglicher Bezugstext für die Kritik an der Nüchternheit kommt neben
den im Folgenden angeführten Texten auch der von N. mit etlichen Lesespuren
versehene Abschnitt „Vom Genie" im zweiten Band von Schopenhauers Welt
als Wille und Vorstellung in Betracht. Hier wird die laut Schopenhauer für den
,Alltagsmenschen' charakteristische Nüchternheit dem künstlerisch-philosophi-
schen Genie abgesprochen: „Darum also fehlt dem Genie die Nüchternheit,
als welche gerade darin besteht, daß man in den Dingen nichts weiter sieht,
als was ihnen, besonders in Hinsicht auf unsere möglichen Zwecke, wirklich
zukommt: daher kann kein nüchterner Mensch ein Genie seyn." (Schopen-
hauer 1873-1874, 3, 446) Dagegen läuft FW 57 gerade darauf hinaus, die Nüch-
ternheit der Nüchternen selbst in Zweifel zu ziehen.
421, 3-6 Ihr nüchternen Menschen, die ihr euch gegen Leidenschaft und Phan-
tasterei gewappnet fühlt und gerne einen Stolz und einen Zierath aus eurer Leere
machen möchtet] KSA 14, 245 verweist für diese einleitende Apostrophierung
der ,Nüchternen', die im Text später noch zweimal wiederholt wird (vgl. 421,
25 u. 422, 4) auf Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers, wo Wer-
ther im Brief vom 12. August über ein Gespräch mit seinem ,nüchternen' Kon-
kurrenten Albert schreibt: „Ach ihr vernünftigen Leute! rief ich lächelnd aus.
Leidenschaft! Trunkenheit! Wahnsinn! Ihr steht so gelassen, so ohne Theilneh-
mung da, ihr sittlichen Menschen, scheltet den Trinker, verabscheut den Un-
sinnigen, geht vorbey wie der Priester, und dankt Gott wie der Pharisäer, daß
er euch nicht gemacht hat, wie einen von diesen. Ich bin mehr als einmal
trunken gewesen, und meine Leidenschaften waren nie weit vom Wahnsinne,
und beydes reut mich nicht, denn ich habe in einem Maasse bergreifen lernen:
Wie man alle ausserdordentliche Menschen, die etwas grosses, etwas unmög-
lich scheinendes würkten, von jeher für Trunkene und Wahnsinnige aus-
schreyen mußte. / Aber auch im gemeinen Leben ists unerträglich, einem Kerl
bey halbweg einer freyen, edlen, unerwarteten That nachrufen zu hören: Der
Mensch ist trunken, der ist närrisch. Schämt euch, ihr Nüchternen. Schämt
euch, ihr Weisen." (Goethe 1774, 1, 82 f.)
Auch wenn die Gegenüberstellung der „Nüchternen" und der ebenfalls in
N.s Text mehrfach genannten „Trunkenheit" (421, 17; 422, 6 u. 7) offensichtlich
eine Gemeinsamkeit darstellt, lässt sich doch hinterfragen, ob es sich bei FW 57
 
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