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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0548
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Stellenkommentar FW 57, KSA 3, S. 421-422 525

nur so verstanden, ist die Unterscheidung von ,Sache' und ,Erscheinung'
sinnlos." Zieht diese Deutung mit ihrer Einschränkung „nur so" letztlich still-
schweigend eine Parallele zum kantischen Begriff der „Erscheinung", so fällt
die Interpretation von Fleischer 1984, 164 deutlich radikaler aus: „Von Erschei-
nung zu sprechen, bedeutete für Kant, an der Wirklichkeit der Dinge außerhalb
unserer Begriffe festzuhalten. Damit ist es bei Nietzsche nichts mehr." Für N.
reduziere sich die Erscheinung zum bloßen „Schein" ohne jede Existenz außer-
halb des menschlichen Bewusstseins.
Auch neuere Interpretationen betonen den reinen Fiktionscharakter der
,Wirklichkeit', wie ihn N. in FW 57 in systematisch-erkenntnistheoretischer Ab-
sicht behaupte. So zieht etwa Wolfgang Welsch aus dem Abschnitt das Fazit:
„Wirklichkeit ist nicht das, was man gemeinhin darunter zu verstehen pflegt,
nämlich etwas Objektives, sondern sie steht gerade auf der Seite dessen, was
man für ihr Gegenteil hält: sie ist eine Fiktion, eine menschliche Konstruktion"
(Welsch 1998, 196). In einem späteren Text versteht Welsch von hier aus N. als
Radikalisierer Kants und überhaupt des modernen Anthropomorphismus:
„Nietzsche unterscheidet sich von Kant eigentlich nur durch seine Radikalisie-
rung des Produktionismus. Nietzsche meint, dass wir die Strukturen unserer
Erfahrung und Erkenntnis letztlich frei erzeugen und neu erfinden können. Er
hat eine artistische Version des Anthropomorphismus entwickelt. Seine Konzep-
tion des Menschen als animal fingens treibt die grundsätzlich weltproduktionis-
tische Sichtweise der Moderne auf die Spitze." (Welsch 2011, 10) Vgl. ähnlich
auch Kleiner 2006, 72, der FW 57 und insbesondere den hier zu kommentieren-
den Passus wie folgt deutet: „Nietzsche hebt mit dieser Überlegung den grund-
sätzlich konstruktivistischen Charakter von Wirklichkeit, die Interpretativität
all unserer Wirklichkeitsauffassungen hervor. Wirklichkeit ist nichts Objekti-
ves, sondern eine menschliche Fiktion bzw. Konstruktion, die permanent
durch metaphorische Tätigkeit hervorgebracht und sozial geteilt wird". Dass
derlei ,inhaltistische' Interpretationen, die N. ausgehend von einzelnen Text-
partien philosophische Großthesen zuschreiben, mit Skepsis zu betrachten
sind, muss im Kontext des vorliegenden Kommentars kaum eigens hervorgeho-
ben werden (vgl. dazu ÜK 3).
In gewisser Weise vorgeprägt findet sich der zu kommentierende Passus
bereits in WL 1, wo in ähnlich deiktischer Weise der vermeintliche Wahrheits-
gehalt von Objekten der Außenwelt auf ein selbstvergessenes künstlerisches
Produktionsvermögen des wahrnehmenden Subjekts zurückgeführt wird: „Nur
durch das Vergessen jener primitiven Metapherwelt, nur durch das Hart- und
Starr-Werden einer ursprünglich in hitziger Flüssigkeit aus dem Urvermögen
menschlicher Phantasie hervorströmenden Bildermasse, nur durch den unbe-
siegbaren Glauben, diese Sonne, dieses Fenster, dieser Tisch sei eine Wahr-
 
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