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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0559
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536 Die fröhliche Wissenschaft

kann als Gegenentwurf zur philosophischen Altophobie bei Montaigne und
Pascal verstanden werden, auf die Vivarelli 1998, 127-129 hingewiesen hat. Bei
Montaigne 1753-1754, 2, 365 (II, XII) konnte N. lesen: „Man lege zwischen
zween [...] Thürme einen so breiten Balken, daß einer darauf gehen kann: dem
ungeacht wird keine philosophische Weisheit so standhaft seyn, daß sie uns
Muth machen sollte darüber zu gehen, wie wir thun würden, wenn er auf der
Erde läge." Ähnlich bei Pascal 1865, 2, 41: „Laßt den größten Philosophen der
Welt auf einem mehr als breiten Steg über einen Abgrund dahin gehen: wenn
ihn gleich sein Verstand überzeugt, daß er nichts zu fürchten habe, so wird
doch seine Einbildungskraft den Sieg davon tragen. Viele könnten nicht einmal
dem Gedanken daran Stand halten, ohne zu erblassen und zu schwitzen." Das
sprechende Wir in FW 59 beansprucht für sich genau diese von Montaigne und
Pascal bestrittene Schwindel- bzw. Höhenangstfreiheit. Vgl. auch die Selbstins-
zenierung des Philosophen als Seiltänzer im Fünften Buch, Abschnitt FW 347
(hierzu NK 583, 16-18).
423, 33 Wir Mond[...]süchtigen!] Nacht- bzw. Schlafwandler galten früher als
,mondsüchtig', was zu N.s Zeit freilich bereits wissenschaftlich in Frage gestellt
wurde; vgl. Schaller 1860, 375: „Früher nannte man das Nachtwandeln be-
kanntlich Mondsucht, weil man meinte, es träte, nur zur Zeit des Vollmondes
ein und sei daher auch auf einen Einfluß des Mondes zurückzuführen. Diese
Beobachtung ist nun jedenfalls irrig, ob wohl - wie bei so manchen andern
Krankheiten - in einzelnen Fällen auch die Paroxismen des Nachtwandelns
mit dem Mondwechsel zusammen treffen mögen. Ob etwa nur die eigenthümli-
che Beleuchtung des Mondes zum Nachtwandeln reizt, oder ob der Mond noch
eine weitere Rolle dabei spielt, ist für jetzt noch eine offene Frage."
423, 34-424, 2 Wir todtenstillen unermüdlichen Wanderer, auf Höhen, die wir
nicht als Höhen sehen, sondern als unsere Ebenen, als unsere Sicherheiten!] Zur
schlafwandlerischen Sicherheit auf gefährlichen Höhen vgl. NK 417, 4-6. Erklä-
rungsversuche dieses Phänomens, die auf das auch bei N. hervorgehobene feh-
lende Gefahrenbewusstsein abstellen, wurden schon im 18. Jahrhundert unter-
nommen; vgl. z. B. Hennings 1784, 467: „Die Nachtwandler gehen des Nachts
an sehr gefährliche Oerter, klettern auf den Dächern u. s. w. ohne Gefahr. [...]
Weil sie sich keine Gefahr vorstellen, wie etwan Menschen thun, die im Wa-
chen an gefährlichen Orten gehen, und aus großer Furcht zittern und schwind-
licht werden. Gehet z. E. der Nachtwandler auf einem Dache, so stellt er sich
nicht die Gefahr wegen der Höhe vor, er nimmt daher seinen festen Tritt, und
dazu braucht er keinen breiten Weg, wenn er nur im Gleichgewicht bleibt und
nicht aus dem Mittelpunkt der Schwere fällt." Vgl. ähnlich schon Meier 1758,
72 f. Auch Schopenhauer greift in seinem Versuch über das Geistersehen und
 
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