Stellenkommentar FW 107-108, KSA 3, S. 465-467 743
unsre Dummheit werde! Jede Tugend neigt zur Dummheit, jede Dummheit zur
Tugend [...] - sorgen wir dafür, dass wir nicht aus Redlichkeit zuletzt noch zu
Heiligen und Langweiligen werden!" (KSA 5, 163, 11-17)
465, 12-18 Wir sollen auch über der Moral stehen können: und nicht nur
stehen, mit der ängstlichen Steifigkeit eines Solchen, der jeden Augenblick auszu-
gleiten und zu fallen fürchtet, sondern auch über ihr schweben und spielen! Wie
könnten wir dazu der Kunst, wie des Narren entbehren? - Und so lange ihr euch
noch irgendwie vor euch selber schämt, gehört ihr noch nicht zu uns!] Mit die-
ser exkludierenden Anrede des sprechenden Wir an ein möglicherweise „noch"
unter Selbstscham leidendes Ihr geht zugleich ein implizites Inklusions-
angebot, vielleicht sogar ein Inklusionsgebot einher, das dazu auffordert, die
Scham vor sich selber abzulegen. Im Umkehrschluss folgt daraus, dass das als
Teilzeitnarr künstlerisch-spielerisch über der Moral schwebende Wir sich selbst
als schon frei von jeder Selbstscham empfindet. Dadurch korrespondiert der
Schluss des Zweiten Buchs mit dem Schluss des Dritten Buchs, wo FW 275 das
„Sich nicht mehr vor sich selber schämen" als „das Siegel der erreich-
ten Freiheit" bezeichnet (519, 22 f.). Wie schon eingangs im Kommentar zu
FW 107 gezeigt, hat N. die Schlüsse des Zweiten und Dritten Buchs erst kurz vor
der Drucklegung aufeinander bezogen und dann auch Köselitz eigens darauf
aufmerksam gemacht. Zu dieser Korrespondenz der Buchschlüsse siehe Viva-
relli 2015, 86 und ausführlicher Brusotti 2016b, 216-218. Vgl. auch ΝΚ FW 275
sowie - zum Gegenfall eines sich für sein eigenes Schreiben schämenden
Schriftstellers - ΝΚ FW 93.
Drittes Buch
108.
Neue Kämpfe.] Erhebliche Ähnlichkeit mit FW 108 weist ein nachgelassenes
Notat von 1881 auf, in dem auch schon - und zum einzigen weiteren Mal bei
N. - das Motiv von Buddhas Höhlen-Schatten im Zusammenhang mit dem ,Tod
Gottes' vorkommt. In diesem Text wird der Tod Gottes allerdings noch nicht,
wie dann in FW 108, als Faktum eingeführt, sondern Gott erscheint hier noch
als ein gespenstisch umherschleichender Totgesagter: „Überall wo verehrt, be-
wundert, beglückt, gefürchtet, gehofft, geahnt wird, steckt noch der Gott, den
wir todt gesagt haben - er schleicht sich allerwegen herum und will nur nicht
erkannt und bei Namen genannt sein. Da nämlich erlischt er wie Buddha's
Schatten in der Höhle - er lebt fort unter der seltsamen und neuen Bedin-
gung, daß man nicht mehr an ihn glaubt. Aber ein Gespenst ist er ge-
unsre Dummheit werde! Jede Tugend neigt zur Dummheit, jede Dummheit zur
Tugend [...] - sorgen wir dafür, dass wir nicht aus Redlichkeit zuletzt noch zu
Heiligen und Langweiligen werden!" (KSA 5, 163, 11-17)
465, 12-18 Wir sollen auch über der Moral stehen können: und nicht nur
stehen, mit der ängstlichen Steifigkeit eines Solchen, der jeden Augenblick auszu-
gleiten und zu fallen fürchtet, sondern auch über ihr schweben und spielen! Wie
könnten wir dazu der Kunst, wie des Narren entbehren? - Und so lange ihr euch
noch irgendwie vor euch selber schämt, gehört ihr noch nicht zu uns!] Mit die-
ser exkludierenden Anrede des sprechenden Wir an ein möglicherweise „noch"
unter Selbstscham leidendes Ihr geht zugleich ein implizites Inklusions-
angebot, vielleicht sogar ein Inklusionsgebot einher, das dazu auffordert, die
Scham vor sich selber abzulegen. Im Umkehrschluss folgt daraus, dass das als
Teilzeitnarr künstlerisch-spielerisch über der Moral schwebende Wir sich selbst
als schon frei von jeder Selbstscham empfindet. Dadurch korrespondiert der
Schluss des Zweiten Buchs mit dem Schluss des Dritten Buchs, wo FW 275 das
„Sich nicht mehr vor sich selber schämen" als „das Siegel der erreich-
ten Freiheit" bezeichnet (519, 22 f.). Wie schon eingangs im Kommentar zu
FW 107 gezeigt, hat N. die Schlüsse des Zweiten und Dritten Buchs erst kurz vor
der Drucklegung aufeinander bezogen und dann auch Köselitz eigens darauf
aufmerksam gemacht. Zu dieser Korrespondenz der Buchschlüsse siehe Viva-
relli 2015, 86 und ausführlicher Brusotti 2016b, 216-218. Vgl. auch ΝΚ FW 275
sowie - zum Gegenfall eines sich für sein eigenes Schreiben schämenden
Schriftstellers - ΝΚ FW 93.
Drittes Buch
108.
Neue Kämpfe.] Erhebliche Ähnlichkeit mit FW 108 weist ein nachgelassenes
Notat von 1881 auf, in dem auch schon - und zum einzigen weiteren Mal bei
N. - das Motiv von Buddhas Höhlen-Schatten im Zusammenhang mit dem ,Tod
Gottes' vorkommt. In diesem Text wird der Tod Gottes allerdings noch nicht,
wie dann in FW 108, als Faktum eingeführt, sondern Gott erscheint hier noch
als ein gespenstisch umherschleichender Totgesagter: „Überall wo verehrt, be-
wundert, beglückt, gefürchtet, gehofft, geahnt wird, steckt noch der Gott, den
wir todt gesagt haben - er schleicht sich allerwegen herum und will nur nicht
erkannt und bei Namen genannt sein. Da nämlich erlischt er wie Buddha's
Schatten in der Höhle - er lebt fort unter der seltsamen und neuen Bedin-
gung, daß man nicht mehr an ihn glaubt. Aber ein Gespenst ist er ge-