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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Contr.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0768
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Stellenkommentar FW 108, KSA 3, S. 467 745

die Anlage zu mittelalterlicher Religiosität fehle dem Chinesen ganz und gar. -
Bei den fünf Thürmen' erblickt man den Schatten des Buddha, nachdem man
einige Zeit durch ein kleines Loch im Felsen geschaut." (Ebd., 524) Dass es sich
dabei um „einen ungeheuren schauerlichen Schatten" Buddhas handle (467,
5), scheint N.s eigene Zutat zu sein.
Campioni 2010a, 84 verweist auf Stanislas Juliens 1853 erschienene franzö-
sische Übersetzung eines Berichts über den buddhistischen Pilger Hiouen-
Thsang aus dem 7. Jahrhundert (Histoire de la vie d'Hiouen-Thsang, et de ses
voyages dans l'Inde: entre les annees 629 et 645 de notre ere), die Koeppen
bekannt war und in der zwar zu lesen ist, „wie Licht in die Höhle flutet und der
blendend weiße Schatten Buddhas sich majestätisch an der Wand abzeichnet"
(Übersetzung von Campioni 2010a, 84). Aber diese Schilderung, die auch in
Ernest Renans Essay Le Bouddhisme von 1866 erwähnt wird, sticht durch ihren
positiv-erhabenen Charakter von N.s Formulierung ab. Über Hiouen-Thsang
und den Schatten Buddhas konnte sich N. ebenfalls in Max Müllers Essay Bud-
dhistische Pilger informieren, wo Buddhas Schatten in der „Drachenhöhle" bei
„Peshawer" verortet wird (Müller 1869, 1, 235). Müller zitiert noch einen Zusatz
zur Biographie Hiouen-Thsangs durch einen „Schreiber", der das Verblassen
des Schattens im Laufe der Jahrhunderte betont, wobei man ihn jedoch im
aufrichtigen, inspirierten Gebet vorübergehend wieder deutlich sehen könne:
„Früher sah man Buddha's Schatten in der Höhle, hell wie sein natürliches
Ansehen, und mit allen Zeichen seiner göttlichen Schönheit. Man hätte sagen
können, es war Buddha selbst. Seit einigen Jahrhunderten aber kann man ihn
nicht mehr vollkommen sehen. Obwohl man Etwas sieht, so ist es doch nur
eine schwache und zweifelhafte Aehnlichkeit. Wenn ein Mann betet in aufrich-
tigem Glauben, und wenn er von oben eine verborgene Einwirkung empfangen
hat, so sieht er den Schatten deutlich, kann aber des Anblicks nur eine kurze
Weile geniessen." (Ebd., 237)
Gegenüber den geographisch lokalisierbaren Höhlen, in denen „man noch
Jahrhunderte lang" Buddhas Schatten „zeigte" - bei N. ist es freilich nur „eine
Höhle" - (467, 3 f.; Hervorh. S. K.), sind diejenigen Höhlen, in denen man „viel-
leicht noch Jahrtausende lang" Gottes Schatten zeigen wird (467, 6 f.), offen-
sichtlich nur metaphorisch zu verstehen. Campioni 2010a, 89-91 hat auf das
weite Einzugsgebiet dieser Höhlen- und Gottes-Schatten-Metaphorik aufmerk-
sam gemacht: darunter die biblische und islamische Tradition, das platonische
Höhlengleichnis, der Neuplatonismus der Spätantike und der Renaissance, der
amerikanische Transzendentalismus Emersons, der mit Bezug auf Gott erklär-
te, „that all things are shadows of him" (Emerson 1881, 245), sowie der franzö-
sische Moralist Joseph Joubert (1754-1824), der Gott gegen seine metaphysi-
schen Schatten verteidigen wollte. Vgl. (etwas weniger quellengesättigt) auch
Stegmaier 2012b, 101-105, der überdies ausführlich auf das Schatten-Motiv in
 
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