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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0083
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Stellenkommentar JGB Vorrede, KSA 5, S. 12 63

398-407; zur Problematik der Lehren generell Stegmaier 2000a; zum Problem
retrospektiver Zuschreibung von Lehren Sommer 2012d). Sehr auffällig ist, dass
N. an jener Stelle, wo er über „meine Lehre“ und zugleich über die „perspekti-
vische Welt“ spricht, nämlich in seinem Brief an Overbeck vom 23. 07.1884
gar nicht von erkenntnistheoretischen, sondern moralphilosophischen Fragen
handelt: „meine Lehre, daß die Welt des Guten und Bösen nur eine scheinbare
und perspektivische Welt ist, ist eine solche Neuerung, daß mir bisweilen da-
bei Hören und Sehen vergeht“ (KSB 6/KGB III/l, Nr. 521, S. 514, Z. 24-27). Wenn
N. hier „die Welt des Guten und Bösen“ eine „scheinbare und perspektivische“
nennt, greift er auf eine Auffassung zurück, die er in seinem Brief an Overbeck
vom 30. 07.1881 bei Spinoza gefunden haben will - oder genauer, aber ohne
es zu sagen, da N. Spinoza nicht im Original gelesen hat, im einschlägigen
Band von Kuno Fischers Geschichte der neuern Philosophie (siehe Sommer
2012b) -: „dieser abnormste und einsamste Denker [...] leugnet die Willensfrei-
heit [...] das Unegoistische -; das Böse -“ (N. an Overbeck, 30. 07.1881, KSB
6/KGB III/l, Nr. 135, S. 111, Z. 7-11). Die Formulierung vom 23. 07.1884 spielt
hingegen auf einen Autor an, den N. mittlerweile direkt rezipiert hatte, nämlich
seinen früheren Basler Kollegen Gustav Teichmüller mit seinem Buch Die wirk-
liche und die scheinbare Welt (vgl. auch NK 12, 14-18 u. NK KSA 6, 81, 8-11).
Erst von 1884 an - damit parallel zur intensivierten Teichmüller-Lektüre - be-
kommt das Perspektivische in N.s Aufzeichnungen stärkeres Gewicht. Es ver-
schiebt sich vom Moralphilosophischen zum Erkenntnistheoretischen. Bei
Teichmüller ist der erkenntnistheoretische Aspekt dominant: „alle diese Syste-
me [sc. der bisherigen Philosophie] sind projectivische Darstellungen un-
seres Erkenntnissinhaltes und, da die Erkenntniss nothwendig auf den Augen-
punkt des Subjects bezogen ist, bloss perspectivische Bilder.“ (Teichmül-
ler 1882, XVI) „Die Welt, wie sie für das Auge erscheint, ist immer und überall
perspectivisch geordnet und weder Mikroskop noch Teleskop kann uns die
Ordnung der Verhältnisse zeigen, welche wir für die wirkliche halten.“ (Ebd.,
183) Zu N.s Teichmüller-Rezeption siehe bereits Nohl 1913, sodann Dickopp
1970; Orsucci/Savorelli 1997, 47-63; Small 2001, 41-58; Schwenke 2006, 257-
263; Emden 2010, 295 f., Fn. 26; Loukidelis 2013, 26-28 u. ö.; Teichmüller 2014,
1, 35 sowie Matthew Meyer 2014, 211-214 und Dellinger 2015,131-135. Bei Teich-
müllers Konzept des Perspektivischen scheint noch die Vorstellung eines
Fluchtpunktes zugrunde zu liegen, auf den hin (wie in der Malerei seit der
Renaissance) alles Erkennen zentralperspektivisch ausgerichtet wird. Das in
N.s Texten zum Ausdruck kommende Verständnis des Perspektivischen zeich-
net sich hingegen dadurch aus, dass ein gemeinsamer Fluchtpunkt entfällt,
auf den hin alle Sehenden sich orientieren könnten, weil jedes Wesen einen
anderen Standpunkt hat und seinen Standpunkt stetig verändert, so dass sein
 
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