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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0084
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64 Jenseits von Gut und Böse

Blickfeld und sein Fluchtpunkt mit dem Blickfeld und dem Fluchtpunkt der
anderen nicht identisch sein können.
In 12, 23-26 geht es weder allein um erkenntnistheoretische noch um mo-
ralphilosophische Fragen. Hier wird vielmehr die Lebensnotwendigkeit der
Perspektivität postuliert - ein Postulat, das auch JGB 34 wiederholen wird:
„Man gestehe sich doch so viel ein: es bestünde gar kein Leben, wenn nicht
auf dem Grunde perspektivischer Schätzungen und Scheinbarkeiten“ (KSA 5,
53, 25-27). In NL 1884, KSA 11, 26[334], 238, 6-8 wird diese Einsicht anschei-
nend als eigene Entdeckung reklamiert: „Keiner hat [...] die Untauglichkeit der
Wahrheit zum Leben und die Bedingtheit des Lebens durch perspektivische
Illusion begriffen.“ Schließlich stellt NL 1885/86, KSA 12, 2[108], 114, 11-18
(entspricht KGWIX 5, W I 8,118,16-23) heraus, „daß die bisherigen Interpreta-
tionen perspektivische Schätzungen sind, vermöge deren wir uns im Leben,
das heißt im Willen zur Macht, zum Wachsthum der Macht erhalten, daß jede
Erhöhung der Menschen die Überwindung engerer Interpretationen mit sich
bringt, [...] dies geht durch meine Schriften“. Eine abweichende Sichtweise do-
kumentiert NL 1885, KSA 11, 40[39], 648, 11-21 (hier korrigiert nach KGW IX 4,
W17, 56, 26-36), wo weniger Anspruch auf die Exklusivität eigener Entdeckun-
gen erhoben wird: „Die Physiker sind jetzt mit allen Metaphysikern darüber
einmüthig, daß wir in einer Welt der Täuschung leben [...]. Das Perspektivische
der Welt geht so tief als heute unser ,Verständniß‘ der Welt reicht; und ich würde
es wagen, es noch dort anzusetzen, wo der Mensch billigerweise überhaupt von
Verstehen absehn darf — ich meine dort, wo die Metaphysiker das Reich des an-
scheinend Sich-selbst-Gewissen, Sich-selber-Verständlichen (ansetzen}, und im
Denken.“ Teichmüller wollte ausdrücklich eine Neue Grundlegung der Metaphy-
sik ins Werk setzen (so der Untertitel von Teichmüller 1882). Teichmüller nimmt
dabei gerade die Einmütigkeit der Physiker und Metaphysiker an, „da [...] eine
[...] Zusammenfassung unserer Empfindungen die Auffassung und Anschauung
der sogenannten wirklichen Welt liefert, welche doch von allen wissenschaftli-
chen Forschern nur für ein perspectivisches Weltbild gehalten wird“ (Teichmül-
ler 1882,185). Das sprechende Wir in N.s Text weist hingegen Teichmüllers meta-
physische Forderungen ab, nämlich: „Wir bedürfen des zeitlosen Stand-
punktes, um das perspectivische Bild des Zeitlichen aufzufassen“ (ebd., 192).
Es gibt demnach in JGB keinen transzendent(al)en Standpunkt des Denkens, der
nicht selber auch perspektivisch bestimmt wäre.
Wenn N. in der Druckfassung von 12, 23-26 das „Grundelement alles Le-
bens“ zur „Grundbedingung alles Lebens“ emendiert, wird damit die lebenson-
tologische Seite des Arguments verstärkt: Es ist nicht nur für alle Lebewesen
charakteristisch, dass sie eine je eigene Perspektive haben, die von ihrem je-
weiligen Standpunkt ebenso wie von ihrer biologischen und individuellen Aus-
 
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