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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0103
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Stellenkommentar JGB 2, KSA 5, S. 16 83

Lehre 171-176). Fasst man mit MA II WS 67 den Begriff des Gegensatzes schär-
fer, dann würde es der „Beobachtung“ wohl eher gerecht, von „Gradverschie-
denheiten“ zu sprechen: „Die allgemeine ungenaue Beobachtung sieht in der
Natur überall Gegensätze (wie z. B. ,warm und kalt4), wo keine Gegensätze, son-
dern nur Gradverschiedenheiten sind. Diese schlechte Gewohnheit hat uns ver-
leitet, nun auch noch die innere Natur, die geistig-sittliche Welt, nach solchen
Gegensätzen verstehen und zerlegen zu wollen.“ (KSA 2, 582, 9-15) Die Sugges-
tion sowohl von JGB 2 als auch von MA 11 besteht nun darin, dass „die Meta-
physiker“ (16,14 f.) das Entstehen aus Gegensätzen ganz geleugnet hätten. Das
trifft beispielsweise auf den platonischen Sokrates nicht zu, der im Phaidon
seinen ersten Versuch, die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen, just auf den
Grundsatz aufbaut, dass alles aus seinem Gegensatz entstehe. Die attackierten
„Metaphysiker“ scheinen entweder Parmenideer zu sein, die letztlich das Wer-
den überhaupt leugnen (vgl. NK 6/1, S. 286-290), oder doch wenigstens - wie
Aristoteles (Metaphysik 1075a-b u. Physik 188a) - nicht bereit sind, einen ur-
sprünglichen Gegensatz als Anfang des Weltprozesses zu denken. Ein solcher
Ursprungsgegensatz geriete als unbeweisbare Generalaussage freilich auch
leicht wieder selbst unter Metaphysikverdacht. Dass gerade der in N.s Werk
wiederholt als metaphysische Monstrosität geschmähte Deutsche Idealismus,
namentlich in der , absoluten4 Variante Hegels das Seiende wesentlich aus dem
Gegensatz heraus dachte, sei nur am Rande vermerkt.
Mit der in MA 11 und JGB 2 etablierten Charakterisierung der „Metaphysi-
ker“ als Leugner von Gegensätzen im Wesen der Wirklichkeit operierte auch
Afrikan Spir in seinen Kleinen Schriften, die N. allerdings nicht besaß: „Wie
kann man die in der Welt vorhandenen Gegensätze negiren? Doch wohl nicht
in der Weise, dass man behauptet, diese Gegensätze bestehen gar nicht; denn
eine solche Leugnung offenkundiger Thatsachen wäre sogar für einen Meta-
physiker zu toll. Man kann also diese Gegensätze nur in dem Sinne leugnen,
dass man sagt, dieselben gehören nicht zu dem wahren, ursprünglichen Wesen
der Realität, dasjenige, was hier in Gegensätzen besteht, sei an sich, seinem
ursprünglichen Wesen nach eins. Aber dann tritt der Gegensatz des wahren
und des erscheinenden, gegebenen Wesens der Realität hervor, und diesen
Gegensatz darf /179/ man nicht mehr leugnen; denn wenn man diesen leugnet,
so bestätigt man damit die in der gegebenen Wirklichkeit bestehenden Gegen-
sätze, anerkennt sie als ursprüngliche und mithin in keiner Hinsicht zu reduci-
rende. Dieser Alternative kann man offenbar nicht entgehen. Ehe man die Ge-
gensätze zu überwinden sich anschickt, muss man dieselben erst in ihrer wah-
ren Bedeutung kennen lernen; das haben aber die Metaphysiker stets
versäumt, weil ihr Sinn und ihr Streben nicht auf die Erkenntniss, sondern von
vornherein auf die Explication der Wirklichkeit gerichtet war und ist“ (Spir
1870, 178 f.).
 
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