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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0242
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222 Jenseits von Gut und Böse

sie, die Lebendige, — das Leben liebt!] Die Behauptung, dass die Wissenschaft
letztlich in ihrer Liebe zur zurechtgefälschten, vereinfachten Welt auch „das
Leben“ liebe, steht nicht nur in starkem Kontrast zu N.s früher Wissenschafts-
kritik, wie er sie etwa in der Zweiten unzeitgemässen Betrachtung über den Nut-
zen und Nachtheil der Historie eindringlich formuliert hat, wonach nämlich die
(im dortigen Fall: historische) Wissenschaft dem Leben oft abträglich sei. Sie
widerspricht auch Julius Bahnsens Darlegungen (vgl. NK 41, 14-18), der den
„Willen zum Wissen“ und den „Willen zum Nichtwissen“ gleichrangig nebenei-
nander gestellt und ersteren mit dem „Willen zum Leben“, letzteren aber mit
dem „Willen zum Nichtleben“ assoziiert hat. In JGB 24 ist die Behauptung über
die Wissenschaft nahezu notwendig, weil hier der „Wille zum Wissen“ nur als
sekundärer Ausfluss eines „Willens zum Nicht-wissen“ gedeutet wird, der je-
doch ganz im Unterschied zu Bahnsen nicht mit einem Todestrieb oder einem
„Willen zum Nichtleben“ korreliert ist, sondern vielmehr Ausdruck des Lebens-
willens (oder, ohne dass der Begriff hier gebraucht würde: des Willens zur
Macht). JGB 24 versucht sich also in einer monistischen Konzeption, während
Bahnsen tendenziell dualistische (selbst sagt er: realdialektische) Annahmen
macht. Freilich müsste dieser Experimentalmonismus bei Gelegenheit erklä-
ren, weshalb es dann Lebensverneinung, Lebensfeindlichkeit, decadence sollte
geben können, da eigentlich immer nur Leben leben will (und sich beispiels-
weise die Wissenschaft oder den „Willen zum Wissen“ dazu dienstbar macht).
25.
In seiner Interpretation von JGB 25 beleuchtet Tongeren 1989, 103-105, dass
dieser Abschnitt zwar mit einer direkten Rede an die Philosophen beginnt, die
sich nicht zur Blutzeugenschaft im Namen der Wahrheit aufplustern sollen,
dann aber übergeht zu einem Reden über jene Philosophen, die sich in einer
derartigen Opferrolle gefallen oder gefielen - und zwar aus einer Perspektive,
die sich mit diesen Philosophen nicht mehr gemein macht: Es wird „nur mit
einer artistischen Neugierde“ „zugeschaut“ (43,17 f.). Tongeren lotet die Span-
nung aus, die sich überdies aufbaut zwischen dem Plädoyer für „Wahrhaftig-
keit“ (42, 22 f.), um derentwillen sich niemand als „Verteidiger der Wahrheit“
gerieren solle, und der Empfehlung, eine „Maske“ (42, 27) zu tragen. Könnte
ein Modus der Wahrhaftigkeit auch die Verstellung durch Masken sein - oder
aber die Wahrhaftigkeit nur eine Maske? Auch in der antiken, historischen
Form der „Tragödie“ (43, 27), mit der der Abschnitt schließt, sind bekanntlich
Masken getragen worden.
42, 6 f. Nach einem so fröhlichen Eingang möchte ein ernstes Wort nicht über-
hört werden: es wendet sich an die Ernstesten.] Dieser Einstieg überrascht, nicht
 
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