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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0388
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368 Jenseits von Gut und Böse

Gebot noch keineswegs einen tiefen Hintersinn, wie er nach JGB 60 darin be-
steht, sich die an sich gar nicht liebenswerten Menschen über den Umweg der
Gottesliebe liebenswert zu machen. Das „Wort“, man solle seinen „Nächsten
um Gottes willen“ lieben, ist nicht direkt biblisch. In Leviticus 19, 18 heißt es
nur: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; denn Ich bin der Herr.“
(Die Bibel: Altes Testament 1818, 126, vgl. auch NK 101, 4f.) Die Verbindung
von Menschenliebe und Gottesliebe, die letztere zum Zweck der ersteren er-
klärt, gründet in der von Augustinus in De doctrina Christiana etablierten Un-
terscheidung zwischen dem uti, dem Gebrauchen, und dem frui, dem Genießen
(vgl. NK 86, 2-3). Dieses frui wird mit amor gleichgesetzt und soll nur der göttli-
chen Trinität zukommen (Aurelius Augustinus: De doctrina Christiana I 3, 3-5,
5), während alles andere nur um dieser Liebe zu Gott willen zu gebrauchen
oder eben, gemäß der biblischen Weisung, zu lieben ist. Im pietistischen Mi-
lieu, mit dem N. familiär verbunden war, lässt sich die von ihm verwendete
Formulierung nachweisen, so in Philipp Jakob Speners Auslegung von Römer
13, 8, wonach „wir den Nächsten um Gottes willen und also zu lieben haben,
daß die Liebe nicht auf ihm beruhe, sondern durch ihn weiter fort und auf Gott
gehe“ (Spener 1856, 255). Im katholischen Milieu ist die funktionale Abhängig-
keit der auch von Jesus gebotenen Nächstenliebe von der Gottesliebe ebenfalls
ein gängiger Gedanke, der zuweilen freilich Widerspruch provoziert hat, so
etwa bei dem N. bekannten dissident-katholischen Philosophen Jakob Froh-
schammer (vgl. NK 26, 30-27, 9). In seinem Buch über Christenthum und die
moderne Naturwissenschaft monierte er, dass Jesus zwar die beiden „Grundge-
bote“ „Liebe Gott über Alles!“ und „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“
aufgestellt habe (Frohschammer 1868, 428 f. nach Matthäus 22, 37-39 u. Markus
12, 30 f.). Jedoch sei es Jesus gerade um die Selbständigkeit beider Grundsätze
gegangen - um das Eigenrecht und die Unabhängigkeit der Menschenliebe
von der Gottesliebe: „Zwar hat man ziemlich allgemein den fraglichen zwei
Grundgeboten die Fassung gegeben, daß das zweite ganz und gar vom ersten
abhängig gemacht wurde, indem man sie so deutete, als hätte Christus gesagt:
,Liebe Gott über Alles und den Nächsten um Gottes willen/ Dadurch allerdings
wäre das zweite Gebot ganz vom ersten abhängig, und damit auch das Gebiet
der Realisirung der Nächstenliebe, der Staat, ganz und gar in Abhängigkeit
gebracht von der Kirche. Auch ist diese Fassung, obwohl scheinbar frömmer,
doch zugleich viel weltlicher, d. h. Weltrücksichten respectirend und das Vor-
nehmthun der beglückteren Menschen gegen die Unglücklichen begünstigend.
Dieß darum, weil man sich derselben zufolge nicht mehr unmittelbar mit dem
Nächsten gleichzustellen und ihn nicht um seiner Würde und seines göttlich
gegebenen Rechtes willen zu lieben und zu fördern braucht, sondern Gott zwi-
schen sich und den gemeinen Mitmenschen stellen kann, vor Berührung mit
ihm bewahrt bleibt und nicht um seinet-, sondern nur um Gottes willen sich
 
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