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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0389
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Stellenkommentar JGB 61, KSA 5, S. 79 369

mit ihm zu befassen braucht. [...] Allein Christus stellt beide Gebote ausdrück-
lich nebeneinander und durchaus gleich und selbständig“ (Frohschammer
1868, 429). In der vermeintlichen Frömmigkeit der Menschenliebe um der Got-
tesliebe willen erkannte Frohschammer also wie JGB 60 einen menschenver-
achtenden Zug, weil man sich mit dieser Funktionalisierung des Menschen um
Gottes willen vornehm vom Nächsten distanzieren kann - eine Haltung, die
bei N. vielleicht Zustimmung fände, während Frohschammer sie verabscheute.
Ob das die „[furchtbare Consequenz“ ist, von der NL 1882, KSA 10, 2[40], 49,
11 f. spricht, „wenn man die Menschen nur um Gottes Willen liebt“? Diese Aus-
sicht auf eine „furchtbare Consequenz“ der an Gott gebundenen Menschenlie-
be klingt freilich eher wie der Widerhall einer Überlegung aus einem N. seit
Jugendtagen wohlbekannten Buch, nämlich Ludwig Feuerbachs Wesen des
Christenthums (vgl. NK KSA 6, 172, 28 f. u. NK KSA 6, 431, 8 sowie NL 1861/62,
KGW I 2, 11[24], 307). Dort heißt es: „Es handelt sich also im Verhältniß der
selbstbewußten Vernunft zur Religion nur um die Vernichtung einer Illusi-
on- einer Illusion aber, die keineswegs indifferent ist, sondern vielmehr
grundverderblich auf die Menschheit wirkt, den Menschen, wie um die
Kraft des wirklichen Lebens, so um den Wahrheits- und Tugendsinn bringt;
denn selbst die Liebe, an sich die innerste, wahrste Gesinnung, wird durch die
Religiosität zu einer nur scheinbaren, illusorischen, indem die religiö-
se Liebe den Menschen nur um Gottes willen, also nur scheinbar den Men-
schen, in Wahrheit nur Gott liebt.“ (Feuerbach 1843b, 408) Max Stirner zitierte
diese Stelle in Der Einzige und sein Eigenthum (Stirner 1845, 77), um daran meh-
rere Fragen anzuschließen, die die Religionskritik in Moralkritik transformie-
ren: „Ist dieß anders mit der sittlichen Liebe? Liebt sie den Menschen, diesen
Menschen um dieses /78/ Menschen willen, oder um der Sittlichkeit willen,
um des Menschen willen, also - denn homo homini Deus - um Gottes wil-
len?“ (Ebd., 77 f.) JGB 60 stellt nicht länger furchtbare, vielmehr fruchtbare Kon-
sequenzen der Menschenliebe um Gottes willen heraus, die darauf gründen, die
Liebe zu den Menschen über diesen Umweg überhaupt erst möglich zu machen.
Denn auf Anhieb, für sich allein genommen, scheint weder der Nächste in con-
creto noch der Mensch in abstracto besondere Zuneigung zu verdienen.
Das Motiv, ,,[d]ie Menschen zu lieben um Gottes Willen“ (NL 1885/86, KSA
12, 1[229], 61, 3 = KGW IX 2, N VII 2, 9, 6) ist auch im späteren Nachlass noch
gelegentlich präsent, siehe KGW IX 4, W I 3, 69, 44 u. KGW IX 6, W II 2, 74,
26-28.
61.
Die in KSA 14, 354 f. mitgeteilte, „erste Fassung“ aus dem Notizheft N VII 1
listet die in JGB 61 aufgefächerten Gebrauchszusammenhänge von Religion in
 
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