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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0390
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370 Jenseits von Gut und Böse

wünschenswerter Klarheit auf: „Daß der Sinn einer Religion vieldeutig ist:
für die Stärkeren und Unabhängigen ist sie ein Mittel, zu herrschen oder sich
Ruhe zu verschaffen selbst von der Mühsal des Herrschens (wie die Brahma-
nen): für die heranwachsenden stärkeren Arten M(ensch} giebt sie Gelegenhei-
ten, den Willen zu stärken und den Stoicism zu lernen: oder auch die Ge-
schmeidigkeit (wie Jesuiten): für die gewöhnlichen} Manschen} giebt sie si-
chere Horizonte, Trost Gemeinschaft von Glück und Leid und eine gewisse
Verschönerung des gemeinen Lebens durch eine Bedeutsamkeit aller Vorgän-
ge.“ (N. hat diese Fassung korrigiert, siehe KGW IX 1, N VII 1, 72, 1-24.) Ent-
scheidend für das Verständnis des Dritten Hauptstückes („das religiöse We-
sen“) insgesamt ist die Emphase, mit der Religion hier funktionalisiert wird:
Sie stellt weder einen Selbstzweck dar, noch hat sie einen einzigen, quasi im-
merwährenden Zweck. Es gibt somit gar kein als Substanz verstandenes, „reli-
giöses Wesen“. Der von der Religion selbst verschiedene Zweck der Religion
ist sozialer statt spiritueller Natur und differiert je nach gesellschaftlicher
Schicht: Den laut JGB 61 (im Unterschied zur Notizbuch-Fassung) zum Herr-
schen prädestinierten Philosophen dient Religion als Machtmittel zur Men-
schen-Züchtung sowie als Distanzierungsmittel (KSA 5, 79, 15-80,12), während
sie aufstrebenden, sich zur Herrschaft emporarbeitenden Schichten als Trai-
ningsmittel gute Dienste leistet (80,12-24). Den „gewöhnlichen Menschen“ (80,
24), deren Lebenssinn allein im Dienen bestehe, ist die Religion schließlich ein
Trostmittel, das Leiden lindert, indem sie es höheren Zwecken unterordnet (80,
24-81, 9). Die in KGW IX 1, N VII 1, 72, 20 mit dem Stichwort „Gemeinschaft“
zumindest angedeutete Funktion von Religion als Gruppen-Kohäsionsmittel
blendet die Druckfassung von JGB 61 aus.
Die Dreiteilung der Gesellschaft, die in JGB 61 eine gegebene Wirklichkeit
darzustellen suggeriert, adaptiert die drei Stände in der Idealgesellschaft von
Platons Politeia, mit dem abgeänderten Akzent, dass dem mittleren Stand (bei
Platon: den Wächtern) soziale Mobilität, sprich: eine Aufstiegschance einge-
räumt wird. Während der Leser den Eindruck erhält, hier würden am konkre-
ten historischen Material die tatsächlichen Funktionen von Religion erhoben,
bietet JGB 61 bei Lichte besehen vor allem die Überblendung des konkreten
historischen Materials mit dem (von Platon Sokrates in den Mund gelegten)
philosophischen Ruf nach einer edlen oder heiligen Lüge, einem Mythos, des-
sen Implementierung dem Gesamtwohl zu dienen habe (vgl. Platon: Politeia
414b-415d), pereat veritas. Mit der Evokation der „Brahmanen“ (80, 8) sowie
von „Christenthum und Buddhismus“ (81, 3 f.) sollen sowohl die soziale Strati-
fikation als auch die verschiedenen Funktionen von Religion historisch beglau-
bigt werden. Im Spätwerk - besonders in GD Die „Verbesserer“ der Menschheit
3-5, KSA 6, 100-102; AC 55-57, KSA 6, 239-244 - kehrt das Motivgeflecht von
 
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