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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0391
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Stellenkommentar JGB 61, KSA 5, S. 79-80 371

JGB 61 wieder: Funktionalisierung von Religion - Mythos - heiliger Lüge, Drei-
teilung der Gesellschaft, Züchtung der Gesellschaft und Herrschaft der Philoso-
phen. Dort (vgl. NK 6/1, S. 365-373 u. NK 6/2, S. 264-279) wird die ganze Erörte-
rung noch stärker in einen asiatischen Rahmen eingepasst (unter dem Ein-
druck der erst 1888 erfolgten Lektüre von Jacolliot 1876), ja es werden die
eigentlich gänzlich priesterlichen „Brahmanen“ kurzerhand in (Platons) Philo-
sophen umgedeutet.
Die entscheidende Botschaft lautet in all diesen Variationen: Die Philoso-
phen sollen die Oberhand behalten, und zwar einerseits gegenüber der Reli-
gion, die nur ein Instrument darstelle, und andererseits gegenüber dem gesell-
schaftlichen Ganzen. Dass dies keine historische Realität, sondern eine
Wunschprojektion abbildet, ist deutlich genug - ebenso, dass sich Philosophie
keineswegs in Religion verwandeln, womöglich veredeln soll, wie es sich man-
che N.-Interpreten erträumen. Religion bleibt inferior, ein »Fußabtreter4 großer
Männer, die ihre Extremitäten nicht beschmutzen wollen.
79, 15f. Der Philosoph, wie wir ihn verstehen, wir freien Geister —, als der
Mensch der umfänglichsten Verantwortlichkeit] Während sich der in JGB 21 Spre-
chende bei der Analyse menschlichen Handelns gegenüber der Vorstellung von
„Verantwortlichkeit“ ironisch-distanziert gab - vgl. NK 35, 10-20 u. NK 36, 12-
31 -, ist dies nun die Definition, mit der die Exzeptionalität des „Philo-
sophien]“, seine Zuständigkeit für Alles, für die Gesamtentwicklung der
Menschheit markiert werden soll. Ist das mehr als eine edle Lüge?
79, 20-25 Der auslesende, züchtende, das heisst immer ebensowohl der zerstö-
rende als der schöpferische und gestaltende Einfluss, welcher mit Hülfe der Reli-
gionen ausgeübt werden kann, ist je nach der Art Menschen, die unter ihren Bann
und Schutz gestellt werden, ein vielfacher und verschiedener.] Die Vorstellung
der schöpferischen Zerstörung, die in der Ökonomie des 20. Jahrhunderts be-
sonders bei Joseph Schumpeter fröhliche Urständ feiert, ist bei N. ein beliebter
Topos, vgl. Reinert/Reinert 2006. Zwar rückt in JGB 61 Religion in eine schöpfe-
risch-zerstörerische Doppelrolle, bleibt jedoch (ebenso wie für N. die Ökono-
mie) in dienender Abhängigkeit zu dem im Philosophen Gestalt werdenden
Züchtungswillen. Auch für diesen benutzte N. gerne die Figur der schöpferi-
schen Zerstörung: „Und wer ein Schöpfer sein muss im Guten und Bösen:
wahrlich, der muss ein Vernichter erst sein und Werthe zerbrechen. Also gehört
das höchste Böse zur höchsten Güte: diese aber ist die schöpferische“ (Za II
Von der Selbst-Ueberwindung, KSA 4, 149, 18-21).
80, 4-12 so kann Religion selbst als Mittel benutzt werden, sich Ruhe vor dem
Lärm und der Mühsal des gröberen Regierens und Reinheit vor dem noth-
wendigen Schmutz alles Politik-Machens zu schaffen. So verstanden es zum
 
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