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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0392
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372 Jenseits von Gut und Böse

Beispiel die Brahmanen: mit Hülfe einer religiösen Organisation gaben sie sich
die Macht, dem Volke seine Könige zu ernennen, während sie sich selber abseits
und ausserhalb hielten und fühlten, als die Menschen höherer und überkönigli-
cher Aufgaben.] Den Kontrast von Christentum und Brahmanismus beschwört
schon M 65, wo die Brahmanen als diejenigen bestimmt werden, „welche sich
selber beherrschen können und welche bereits dadurch in einem Gefühle der
Macht zu Hause sind“ (KSA 3, 63, 23-25). Inspiration dazu konnte N., wie Bru-
sotti 1993, 232 nachweist, in Jacob Wackernagels Vortrag Ueber den Ursprung
des Brahmanismus (Wackernagel 1877) finden; auch andere von N. gelesene
Literatur betont die Vornehmheit der hinduistischen Priesterkaste der Brahma-
nen (vgl. z. B. Hellwald 1877a-1878, 2, 522).
Von 1883 an zeigt sich im Nachlass ein verstärktes Interesse an den Brah-
manen und ihren Weltbewältigungsstrategien (z. B. NL 1883, KSA 10, 7[108],
279, 21-28; NL 1884, KSA 11, 25[1O7], 39, 21-26; 25(227], 73, 14-17; 25(412], 120,
1-6; 26[203], 203, 1-6; 26[225], 208, 25-209, 3; 26[229], 209, 18-21; 26[285], 226,
10 f.; 27[62], 290, 4-6; NL 1885, KSA 11, 34[85], 447, 4-9 = KGW IX 1, N VII 1,
139, 12-22), zum einen unter dem Eindruck von Hermann Oldenbergs Buddha.
So adaptiert NL 1884, KSA 11, 26[221], 208, 3f., wonach „die höchste Kraft, im
Brahman(ismus} und Christenthum“ darin liege „sich abzuwenden von
der Welt“, die Passage bei Oldenberg 1881, 54: „die brahmanische Speculati-
on [...] hat den Begriff der Gottheit Schritt für Schritt zurückgedrängt [...] neben
dem Brahma [...] ist der Mensch selbst übrig geblieben, der in seinem eignen
Innern die Kraft trägt, von dieser Welt, der hoffnungslosen Stätte des Leidens,
sich abzuwenden“. Zum anderen spiegelt sich in N.s Beschäftigung mit dem
Brahmanismus die Lektüre des Systems des Vedanta seines Freundes Paul
Deussen wider. Nach Deussen 1883,14 wussten „die wirklichen oder vermeint-
lichen Nachkommen der altvedischen Sängerfamilien, welche sich Brähmana’s
(Beter, Priester) nannten [...] den in ihren Familien erblichen Besitz der vedi-
schen Hymnen und des an sie gebundenen Cultus mehr und mehr zu einem
Monopol der Religionspflege sowohl als auch der nationalen Erziehung zu ge-
stalten [...]. Zwar durften nach wie vor alle Mitglieder der drei obern Kasten
[...] Opfer veranstalten und teilweise auch verrichten, aber nur die Brahmanen
durften die Opferspeise essen, den Soma trinken und den Opferlohn ([...]) an-
nehmen [...]. Von diesen Privilegien ihrer Kaste wussten die Brahmanen einen
mit der Zeit mehr und mehr ausgedehnten Gebrauch zu machen“. Den Brahma-
nen sei es gelungen, die Erziehung zu monopolisieren: „nur so erklärt sich der
Einfluss ohne Gleichen, welchen die Brahmanen auf das indische Volksleben
zu gewinnen und zu erhalten wussten“ (ebd., 16). Manche der einschlägigen
Notate aus dem Nachlass sind, wiewohl dies der Forschung bislang entgangen
ist, beinahe wörtliche Exzerpte aus Deussens Werk (so NL 1884, KSA 11,
26[199], 202, 5-9 nach Deussen 1883, 511 f.).
 
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