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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0397
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Stellenkommentar JGB 62, KSA 5, S. 81 377

privilegierte Wesen innerhalb der göttlichen Schöpfung vorstellte, dem sein
Schöpfer weder einen bestimmten Platz noch eine bestimmte Aufgabe (munus)
zugewiesen hat, sondern der als plastes et fictor, als „Bildner und Former“ sich
selbst nach eigenem Wollen gestalten soll (Pico della Mirandola 2001, 8), wird
der Mensch gerne als „Chamäleon“ und „Proteus“ (ebd., 10) charakterisiert.
Die Neigung, N. als Radikalisierer dieser Tradition zu sehen, wird begünstigt
durch den Umstand, dass ein prominenter moderner Vertreter der Mängelwe-
sen-Anthropologie sich ausdrücklich auf N.s Formulierung beruft und dazu
schreibt: „Dieses Wort ist richtig und exakt doppelsinnig. Es meint erstens: es
gibt noch keine Feststellung dessen, was eigentlich der Mensch ist, und zwei-
tens das Wesen Mensch ist irgendwie »unfertig4, nicht,festgerückt4. Beide Aus-
sagen sind zutreffend und können übernommen werden.“ (Gehlen 1997,10; zu
Gehlens (Miss-)Verständnis ausführlich Bertino 2008, ferner Loukidelis 2012,
12.) Mit utopischem Enthusiasmus angereichert und gegenwartsdiagnostisch
aufgebläht, dafür jedoch um die Spitze gebracht, den Menschen ausdrücklich
unter die Tiere zurückzustellen, kehrt der Gedanke als vermeintlich eigene In-
novation bei Ernst Bloch wieder: „Der Mensch fühlt sich in solchen Zeiten deut-
lich als nicht festgestelltes Wesen, als eines, das zusammen mit seiner Umwelt
eine Aufgabe ist und ein riesiger Behälter voll Zukunft“ (Bloch 1985, 1, 135).
Freilich sind N.s einschlägige Äußerungen, in ihrem Kontext betrachtet,
nicht so eindeutig wie viele Interpreten immer wieder suggerieren. In NL 1881,
KSA 9, 15 [7], 635, 18-23 wird gegen die vermeintliche wissenschaftliche Fest-
stellung „der Wahrheit“ eingewandt: „Ist es nicht vielmehr der Mensch, wel-
cher sich feststellt — welcher eine Fülle von optischen Irrthümern und Be-
schränktheiten aus sich gebiert oder aus einander ableitet, bis die ganze Tafel
beschrieben ist und der Mensch in seinen Beziehungen zu allen übrigen Kräf-
ten feststeht“? Die aus JGB 62 populär gewordene Formel benutzte N. erst-
mals in der eher dunklen Aufzeichnung NL 1884, KSA 11, 25[428], 125, 25-28:
„Grundsatz: das, was im Kampf mit den Thieren dem Menschen seinen Sieg
errang, hat zugleich die schwierige und gefährliche krankhafte Entwicklung
des Menschen mit sich gebracht. Er ist das noch nicht festgestellte
Thier.“ (Vgl. NK 235, 4-11) Dieses Notat lässt die Frage offen, was ,es4 denn
sei, das einerseits den Menschen über die Tiere dominieren lassen und ande-
rerseits die humane „Entwicklung“ in eine bedenkliche Richtung gelenkt habe.
Ebenso offen bleibt die kausale Verbindung zur Nicht-Festgestelltheit des Tie-
res „Mensch“. Während NL 1885, KSA 11, 34[118], 460, 11 f. (KGW IX 1, N VII
1, 113, 40-42) immerhin konzediert, dass „der Mensch in manchen Instinkten
festgestellt ist“, lamentiert NL 1885/86, KSA 12, 2[13], 72, 22-25 (KGW IX 5,
W I 8, 263, 38-42), dass die Menschen „eben nur das Heerdenthier im Men-
schen entwickeln und vielleicht das Thier »Mensch4 damit feststellen —
 
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