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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0519
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Stellenkommentar JGB 186, KSA 5, S. 106 499

em damit nicht geglückt und wer einmal gründlich nachgefühlt hat, wie abge-
schmackt-falsch und sentimental dieser Satz ist, in einer Welt, deren Essenz Wille
zur Macht ist —, der mag sich daran erinnern lassen, dass Schopenhauer, ob-
schon Pessimist, eigentlich — die Flöte blies.... Täglich, nach Tisch: man lese
hierüber seinen Biographen. Und beiläufig gefragt: ein Pessimist, ein Gott- und
Welt-Verneiner, der vor der Moral Halt macht, — der zur Moral Ja sagt und
Flöte bläst, zur laede-neminem-Moral: wie? ist das eigentlich — ein Pessimist?]
Diesem Passus gehen zwei Vorarbeiten im Nachlass voraus. Die erste Vorarbeit
lautet: „Das Befehlen und das Gehorchen ist die Grundthatsache: das setzt eine
Rang-Ordnung voraus / Schopenhauer} P-136 ,Das Princip oder der oberste
Grundsatz einer Ethik ist der kürzeste und bündigste Ausdruck für die Hand-
lungsweise, die sie vorschreibt oder, wenn sie keine imperative Form hätte, die
Handlungsweise welcher sie eigentlichen moralischen Werth zuerkennt, —
also das Ö, ti der Tugend. Das Fundament einer Ethik hingegen ist das öioti
der Tugend, der Grund jener Verpflichtung oder Anempfehlung oder Belo-
bung, also das öioti der Tugend. — Das Ö, ti so leicht, das öioti so entsetzlich
schwer/ / ,Das Princip, der Grundsatz, über dessen Inhalt alle Ethiker eigent-
lich einig sind: neminem laede, immo omnes quantum potes juva — das ist
eigentlich der Satz, welchen zu begründen alle Sittenlehrer sich abmü-
hen — das eigentliche Fundament der Ethik, welches man wie den Stein der
Weisen seit Jahrtausenden sucht? / Die Schwierigkeit, diesen Satz zu bewei-
sen, ist freilich groß: er ist albern und sklavenhaft-sentimental. / neminem
laede warum nicht? / neminem enthält eine Gleichsetzung aller Menschen: da
aber die Menschen nicht gleich sind, so ist hierin eine Forderung enthalten,
sie als gleich zu setzen. Also: »behandle jeden Menschen als Deinesgleichen4
ist Hintergrund dieser Moral. »Nutzen4 enthält die Frage »nützlich wozu?4 also
schon eine Werthschätzung und Ziel. Unter Umständen könnte, um Allen zu
nützen, es nöthig sein Vielen zu schaden: also der erste Theil falsch sein. Es
ist lächerlich, ein »Wohl- und Wehethun4 an sich zu glauben, wenn man Phi-
losoph ist. Ein Schmerz und Verlust bringt uns oft den größten Gewinn, und
,es ist sehr gut, schlimme Feinde zu haben4, wenn aus dir etwas Großes werden
soll. — / also: erste Frage, ob die Moral praktikabel, ausführbar ist. Aber
wie kann ich »Allen nützen4! / Es giebt Augenblicke in Schopenhauer, wo
er der Sentimentalität Kotzebue’s gar nicht fern steht — auch spielte er täglich
Flöte: das sagt Etwas.44 (NL 1884, KSA 11, 26[85], 171, 19-172, 24, vgl. NK 184,
27-29).
Dieses Exzerpt erklärt, weshalb N. in JGB 186 eine falsche Seitenangabe für
das Zitat aus der zweiten Preisschrift von Schopenhauers Die beiden Grund-
probleme der Ethik gibt (deren Titel heißt auch nicht „Grundprobleme der Mo-
ral“, sondern Ueber das Fundament der Moral [Schopenhauer 1873-1874, 4/2,1]
 
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