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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0521
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Stellenkommentar JGB 186, KSA 5, S. 106 501

ment der Ethik liefern, welches man, wie den Stein der Weisen, seit Jahrtau-
senden sucht.“ (Schopenhauer 1873-1874, 4/2, 136 f.) Schopenhauer unter-
scheidet also das „Princip“ und das „Fundament“ einer Ethik - eine
Unterscheidung, die NL 1884, KSA 11, 26[85] noch reproduziert, JGB 186 hinge-
gen stillschweigend kassiert. Durch die Auslassung erweckt der Text den Ein-
druck, das Prinzip des Nichtverletzens und Helfens sei für Schopenhauer das
„eigentliche Fundament der Ethik“, während dieser „Princip“ und „Funda-
ment“ ja eben gerade getrennt halten wollte. N.s abenteuerliche Zitationspraxis
verkehrt Schopenhauers Aussage geradezu in ihr Gegenteil, auch wenn er zu
Recht festhält, dass Schopenhauer dieses „Princip“ begründen wollte.
In NL 1884, KSA 11, 26[85] erscheint das Prinzip der Ethik - „neminem
laede, imo omnes, quantum potes, juva“, lateinisch für: „verletze nieman-
den, sondern hilf allen, so viel du kannst!“ - als Inbegriff einer sklavenmo-
ralischen Haltung, die von der prinzipiellen Gleichwertigkeit und Gleichbe-
rechtigung aller Menschen im Hinblick auf Leidensminimierung ausgeht.
In JGB 186 wird diese Kritik als Kritik an einem bestimmten Moraltypus
zurückgestellt, um stattdessen den Anspruch auf philosophische Moralbe-
gründung insgesamt als illusionär zu diskreditieren. Beibehalten wird freilich
der Sentimentalitätsvorwurf aus NL 1884, KSA 11, 26[85] - der offenbar auf
die Fähigkeit zielt, das Leiden anderer mit- und nachzuempfinden -, jetzt
aber zugespitzt dahingehend, dass „in einer Welt, deren Essenz Wille zur
Macht ist“, das Gebot der Nichtschädigung und der möglichst großen Hilfe-
leistung „abgeschmackt-falsch“ anmute. Fast unnötig zu erwähnen ist das
Fehlen einen Beweises dafür, dass die Welt tatsächlich „Wille zur Macht“
und nicht bloß wie für Schopenhauer, reiner, leidensverursachender Wille
sei (vgl. NK 107, 4f.).
Die zweite für 106, 24-107, 11 einschlägige Nachlassaufzeichnung lautet:
„Daß es moralisch ist, zu thun, was unser Interesse erheischt, das
suchen die Engländer sich zu beweisen, von Bentham an, der es von Helvetius
übernommen hat. Und das allein soll Moral sein, und darauf hin soll die Moral
entstanden sein. Was, historisch, ganz unsinnig ist: und auch jetzt geht der
Geschmack dagegen. Umgekehrt: früher suchten alle Philos(ophen} zu bewei-
sen, daß neminem laede, immo omnes quantum potes juva das Fundament
der Ethik sei, welches man wie den Stein der Weisen seit Jahrtausenden
sucht. — Daß das thatsächliche Verhalten der Menschen moralisch sei, su-
chen sich die Engländer zu überreden. Daß der Heerden-Instinkt die Mo-
ral selber und allein sei, ehemals-/ Wichtig NB. — von Helvetius an!“ (NL
1885, KSA 11, 34[239], 500, 7-19, entspricht KGW IX 1, N VII 1, 19, 13-40) Die
philosophiehistorische Auskunft, die hier verwertet wird, konnte N. bei Lecky
1879, 1, 7 im Kapitel über „Die Naturgeschichte der Sitten“ finden („Nach die-
 
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