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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0523
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Stellenkommentar JGB 187, KSA 5, S. 107 503

on des Sich-Versteckens und schließlich die Funktion der Selbstverklärung und
Selbstdistanzierung; „diese Moral dient ihrem Urheber, um zu vergessen, jene,
um sich oder Etwas von sich vergessen zu machen; mancher Moralist möchte
an der Menschheit Macht und schöpferische Laune ausüben“ (107, 21-24). All
diese Moralen dienten mit anderen Worten Zwecken, die in diesen Moralen
meist als verwerflich gelten, weil es sich um durchweg egoistische Zwecke han-
delt, die allein dem moralischen Akteur Vorteile verschaffen.
Der in JGB 187 verarbeitete Gedankengang stammt von 1883: „Es giebt Mo-
ralen, welche ihren Urheber vor Anderen rechtfertigen sollen: andere sol-
len ihn beruhigen und zufrieden machen; mit anderen will er sich selber
an’s Kreuz schlagen; mit anderen will er an den Anderen Rache üben;
mit anderen will er sich verstecken; mit anderen will er sich verklären,
sei es vor sich oder anderen; mit anderen will er sich empor und vorwärts
bringen; mit anderen will er an der Menschheit Macht und Schöpfer-
kraft ausüben; mit anderen will er gehorchen, mit anderen herrschen
und demüthigen. Mit anderen will er vergessen oder sich verges-
sen machen. Genug, die Moralen sind auch nur eine Zeichensprache der
Affekte.“ (NL 1883, KSA 10, 7[58], 261, 11-23).
107, 24-27 manch Anderer, vielleicht gerade auch Kant, giebt mit seiner Moral
zu verstehn: „was an mir achtbar ist, das ist, dass ich gehorchen kann, — und
bei euch soll es nicht anders stehn, als bei mir!“] Zur Kritik an Kants Ethik vgl.
z. B. AC 11. In N.s Texten wird wiederholt der Verdacht geäußert, die Deutschen
seien Anbeter des Gehorsams, vgl. z. B. NK KSA 6, 39, 4 f.
107, 28f. die Moralen sind auch nur eine Zeichensprache der Affekte.]
Die innerhalb von N.s publizierten Werken solitäre Sprechweise einer „Zei-
chensprache der Affekte“ hat wohl wegen ihres (post)modernistischen Klanges
viele N.-Interpreten fasziniert, ohne dass man bei ihnen viel darüber erfahren
könnte, was N. genau darunter verstanden hat (eine Ausnahme bildet Heit
2013a, 137 f.). Die „Zeichensprache“ taucht im Nachlass von 1883 plötzlich und
massiert auf, zunächst auf einem einzelnen Blatt „wie ein Titelentwurf“ (Heit
2013a, 137): „,Moral als Zeichensprache“4 (NL 1883, KSA 10, 7[47], 257,
23, vgl. NL 1883, KSA 10, 8[26], 343, 16 u. NL 1883/84, KSA 10, 24[27], 661, 2f.).
Als „Zeichensprache der Affekte“ werden „die Moralen“ dann explizit in dem
in NK ÜK JGB 187 zitierten Notat NL 1883, KSA 10, 7[58], 261, 22 f. bezeichnet;
eine Aussage, die NL 1883, KSA 10, 7[60], 261, 27-262, 2 wiederholt und ergänzt:
„die Affekte selber aber eine Zeichensprache der Funktionen
alles Organischen“. NL 1884, KSA 11, 25[113], 43, 14 schickt der Feststel-
lung, dass „Moral“ (wieder im Singular) „Zeichensprache der Affekte“ sei, noch
voraus: „Der Leib als Lehrmeister“. Etwas ausführlicher, wenn auch in der Sa-
 
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