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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0524
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504 Jenseits von Gut und Böse

ehe selbst nicht auskunftsfreudiger gibt sich das sprechende Ich in NL 1883,
KSA 10, 7[125], 284, 6—9: „Ich habe mich für meine eigene Person daran ge-
wöhnt, in allen moralischen Urtheilen eine stümperhafte Art Zeichensprache
zu sehen, vermöge deren sich gewisse physiologische Thatsachen des Leibes
mitteilen möchten“. Die Umformung folgt in NL 1883, KSA 10, 7[268], 323,
16: „Moral als Zeichen-Sprache des Leibes.“ Derart physiologisch
enggeführt wird der Gedanke in JGB 187 nicht: Die Funktionen, denen Moral
hier dient, lassen sich nur mit Mühe als Ausdruck rein leiblicher Bedürfnisse
identifizieren, es sei denn, man fasst den Begriff des Leibes derart weit, dass
er jedes menschliche Bedürfnis einschließt (und sich damit als Begriff ent-
leert - gemäß dem Motto in NL 1883, KSA 10, 7[126], 285, 19 f.: „Das Geistige
ist als Zeichensprache des Leibes festzuhalten!“). N. griff im publizierten Text
von JGB 187 also die radikaleren, leib-reduktionistischen Überlegungen des
Nachlasses nicht auf, ebensowenig die dort virulente Reduktion menschlicher
Affekte auf ihre Animalität (NL 1883, KSA 10, 7[76], 268, 9-15).
Der Begriff der „Zeichensprache“ bleibt bei N. freilich nicht auf den morali-
schen Komplex limitiert, sondern wird beispielsweise auch für die moderne
Wissenschaft verwendet, nämlich als „Versuch“ verstanden, „für alle Erschei-
nungen eine gemeinsame Zeichensprache zu schaffen“, wobei der Begriff der
„Zeichensprache“ kritisch die Reichweite wissenschaftlichen Erkennens mar-
kiert: „Diese Zeichensprache, welche alle beobachteten ,Gesetze4 zusammen-
bringt, erklärt aber nichts - es ist nur eine Art kürzester (abgekürztes-
ter) Beschreibung des Geschehens.“ (NL 1884, KSA 11, 26[227], 209, 6-12)
Was eine mathematische „Zeichensprache“ in der Wissenschaft ausrichtet,
konnte N. sich von Schmitz-Dumont 1878, 150-153 erklären lassen (der Aus-
druck „Zeichensprache“ im Sinne von „Verständigungsmittel“ ist bereits im
18. Jahrhundert geläufig, vgl. die Belege bei Grimm 1854-1971, 31, 485). Je mehr
Gefallen N. am Wort „Zeichensprache“ fand, desto breiter wurde seine An-
wendbarkeit, so etwa in NL 1885/86, KSA 12,1[28], 17,11-13 (entspricht KGW IX
2, N VII 2, 157, 36-40) auf das „Denken“, das nicht das „innere Geschehen
selber“ sei, „sondern ebenfalls nur eine Zeichensprache für den Machtaus-
gleich von Affekten“, oder schon in NL 1883, KSA 10, 7[62], 262, 8, wo die
Musik anstelle der Moral zur „Zeichensprache der Affekte“ avanciert (vgl. NK
92, 8). „Zeichensprache“ zeigt zunächst einen Mangel an, nämlich einen Man-
gel an Erkennbarkeit des Zugrundeliegenden: Mit „Zeichensprache“ lässt sich
„Vieles verschweigen“ (JGB 196, KSA 5, 117, 14 f.), da sie eben keine Realität
abbildet, sondern verschlüsselt. Dieser Gebrauch des Wortes „Zeichensprache“
deckt sich mit demjenigen, der N. beispielsweise aus Teichmüllers Die wirkliche
und die scheinbare Welt geläufig war. Nach Teichmüller müssen sich Menschen
„im praktischen Leben“ immerzu auf „semiotische Erkenntniss“ verlassen,
 
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