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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0525
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Stellenkommentar JGB 188, KSA 5, S. 107 505

„denn da aller Verkehr der Menschen auf ihren Gefühlen und Begehrungen
beruht, diese ganze Welt des Gemüthes aber für jeden Andern als den Besitzer
unwahrnehmbar und undurchdringlich ist und bleibt, so sind wir auf eine fort-
währende Zeichensprache und auf die zugehörige Semiotik angewiesen. Wer
nun aber nicht z. B. jenes sinnlich unerkennbare Gefühl der Scham oder jene
Gesinnung der Ehrerbietung in sich selber kennt, dem müssen /96/ die zugehö-
rigen Zeichen allerdings ein Räthsel bleiben, wie es z. B. dem Manne in
Grimm’s Märchen erging, der auszog, das Gruseln zu lernen. Wir erkennen das
sinnlich Unerkennbare durch die Analogie mit unseren eigenen inneren Zu-
ständen.“ (Teichmüller 1882, 95 f.) Jede „Zeichensprache“ fordert von ihrem
Rezipienten eine Decodierungsleistung, die er unter Rückgriff auf seine Selbst-
wahrnehmung leistet; zugleich ist sie selbst das Produkt einer Codierung, die
das eigentlich Ursächliche oder Zugrundeliegende eher verbirgt als darstellt.
Als „Zeichensprache der Affekte“ ist die Moral (oder die Musik) darauf aus, zu
verhehlen, was eigentlich den Akteur bewegt (eben ein Affekt). Der Moralen-
Semiotiker dechiffriert die irreführende, moralische Rede (obgleich er doch ei-
gentlich auch nicht empirisch zu den moralkonstituierenden, beispielsweise
physiologischen Realitäten vordringen kann, sondern deren Existenz nur pos-
tuliert). Vgl. zu Semiotik und Zeichensprache NK KSA 6, 98, 17-22.
188.
Eine ältere Fassung dieses Abschnitts ist enthalten in KGW IX 5, W I 8, 259,
12-44; 257, 2-44 u. 255, 2-22. JGB 188 unterläuft die Erwartung, der Moralkriti-
ker werde wie zeitgenössische Freigeister den Unterdrückungscharakter vieler
Moralen anprangern. Im Gegenteil erklärt der Abschnitt diese Unterdrückung
zur notwendigen Bedingung höherer Kulturentwicklung, mit wie viel Opfern
eine solche Anpassung an scheinbar willkürlich Gebotenes auch verbunden
sein mag. Empörend dürfte für liberale Leser der Umstand sein, dass dieser
Text wie selbstverständlich den Wert des Individuums negiert und ganz im Stil
der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie den einzelnen Men-
schen („was liegt ihr [sc. der Natur] am Einzelnen!“ - 110, 8f.) dem Interesse
an der Entwicklung der Gattung preisgibt. Symptomatisch dafür ist, dass wie in
der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie, namentlich bei Kant
(vgl. Sommer 2006b, 312-314 u. 319-322), „die Natur“ selbst als die im ge-
schichtlichen Prozess handelnde Person auftritt (zum Vergleich von N.s und
Kants Geschichtsphilosophie Sommer 2005b). Zunächst tritt die Natur in JGB
188 nur in Anführungszeichen auf (108, 3) und erscheint als Gegensatz zur
Moral, die sie in Schranken weist. Dann jedoch wird vermerkt, „die Wahr-
scheinlichkeit“ sei „nicht gering“ (108, 24), dass die ,„Natur‘“ nicht Gehen-
 
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