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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0526
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506 Jenseits von Gut und Böse

Lassen sei, sondern Entwicklung unter den Bedingungen des Zwangs - ja spä-
ter heißt es sogar, dass sie in der Moral „die allzugrosse Freiheit hassen“ lehre
(109, 33). Immer noch unter Anführungszeichen steht sie in 109,18-20, wo ihre
angeblich „vornehme“, zugleich empörende, weil um das Einzelschicksal völ-
lig unbekümmerte, „verschwenderische[.] und gleichgültige^] Grossartig-
keit“ gepriesen wird - eine Passage, die an das berühmte, lange Goethe zu-
geschriebene, aber wohl von Georg Christoph Tobler verfasste Fragment Die
Natur erinnert, das N. auch in seiner Goethe-Ausgabe zur Verfügung stand
(Goethe 1853-1858, 40, 385-388. Das vorangehende Vorsatzblatt ist mit einem
Eselsohr markiert). Am Ende von JGB 188 verliert die Natur ihre Anführungszei-
chen - um zu werden, was sie ist? -, nämlich dort, wo ihr schließlich ein
„moralische[r] Imperativ“ in den Mund gelegt wird: „Du sollst gehorchen, ir-
gend wem, und auf lange: sonst gehst du zu Grunde und verlierst die letzte
Achtung vor dir selbst“ (110, 3-6).
Man könnte geneigt sein, diesen Appell an eine „Naturabsicht“ (so Kants
Terminus, AA VIII, 18) unter darwinischen und post-darwinischen Bedingun-
gen für die Persiflage eines längst verblichenen Diskurses zu halten, als kausti-
sche Kontrafaktur zur Idee einer ganz und gar blinden Evolution. Freilich sind
die intratextuellen Hinweise bescheiden, die eine solche ironisch-distanzieren-
de Lesart unterstützen, es sei denn, man nehme das Forschen danach, welche
„Verengerung der Perspektive, und also in gewissem Sinne die
Dummheit, als eine Lebens- und Wachsthums-Bedingung“ (110, 1-3), eine Mo-
ral mit sich bringe, gerade nicht als Plädoyer für Perspektivenverengung, son-
dern im Gegenteil als Beleg einer Perspektivenerweiterung, die ein Anliegen
des Fünften Hauptstücks und von JGB insgesamt sein dürfte.
Als Quintessenz von JGB 188 mit der ostentativen Parteinahme für Gehor-
samsmoralen und mit einer starken Option für die Wünschbarkeit der Sklave-
rei - „die Sklaverei ist, wie es scheint, im gröberen und feineren Verstände das
unentbehrliche Mittel auch der geistigen Zucht und Züchtung“ (109, 29-31) -
drängt sich eher eine triviale Spruchweisheit auf, die auch für alle asketischen
Anstrengungen gilt: Übung macht den Meister. Der Abschnitt projiziert diese
Erkenntnis auf den Gesamtverlauf der Menschheitsgeschichte und folgert da-
raus etwas, was im 18. und 19. Jahrhundert als »Fortschritt4 bezeichnet zu wer-
den pflegte - eine Vokabel, die bei N. freilich nicht gut davonkommt (vgl. NK
KSA 6,171, 2-5). Paradigmen der Askese und der Entwicklung bleiben das Tun
des ,,Künstler[s]“ (108, 26), seine Strenge und seine »„Inspiration4“ (108, 28f.»
vgl. NK KSA 6, 339, 9-21): Für ihn fallen, wie für den spekulativ-universalisti-
schen Geschichtsphilosophen, Freiheit und Notwendigkeit in eins. Zur Inter-
pretation von JGB 188 siehe Tongeren 1989, 80-84, ferner Abel 1998, 91 f. und
Neymeyr 2009, 90 f. Karl Jaspers notierte als Quintessenz von JGB 188 an den
 
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