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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0563
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Stellenkommentar JGB 201, KSA 5, S. 121 543

„democracy“, um zu dekretieren: „Nietzsche was not a democrat, I want to
argue that he could have been“ (ebd., 230), weil N. ja das Auftreten dieser
„zauberhaften Unfassbaren und Unausdenklichen“ begrüße. Allerdings findet
eine Identifikation von „Auflösungs-Zeitalter“ und Demokratie in JGB 200 gera-
de nicht statt, und Demokratie ist überdies als historischer Hintergrund für alle
Genannten mit Ausnahme des Alkibiades historisch unplausibel: „Auflösungs-
Zeitalter“ müssen, auch wenn in ihnen das Glücksinteresse der Massen Ober-
hand gewinnt, keineswegs zwangsläufig demokratische Zeitalter sein.
201.
JGB 201 fokussiert nicht mehr wie JGB 200 den Sonderfall von Auflösungszeit-
altern, sondern skizziert die Geschichte der Moral im großen Bogen, nach JGB
199 die Herdenartigkeit menschlicher Sozialisierung voraussetzend. Ursprüng-
lich habe dabei „die Heerden-Nützlichkeit“ (121, 22) im Vordergrund gestan-
den, nämlich der Fortbestand der Herde um jeden Preis, was zunächst eine
,„Moral der Nächstenliebe“4 (121, 26) ausgeschlossen hätte, drohte die Scho-
nung einzelner Bedürftiger doch dem Gesamtgefüge zu schaden. Nach und
nach habe eine solche „Rücksicht“ (121, 27) aber doch eingesetzt; „es sind auch
auf diesem Zustande der Gesellschaft schon alle jene Triebe thätig, welche spä-
ter mit Ehrennamen, als »Tugenden4 bezeichnet werden“ (121, 29-31). Lange
seien indes die Nächstenliebe und mit ihr das Mitleid peripher geblieben; erst
in dem Augenblick, in dem sich die Herde gegen außen sicher fühlen durfte,
sei die „Furcht vor dem Nächsten“ (122,13) aufgekommen. Denn dieser Nächste
lege „starke und gefährliche Triebe“ (122, 15) an den Tag, die bis dahin als
gemeinnützig, weil die Herden-Sicherheit garantierend, gehegt und gepflegt
worden seien. Diese Triebe des machtwilligen Individuums seien nun allmäh-
lich der moralischen Ächtung verfallen. „Wie viel oder wie wenig Gemein-Ge-
fährliches, der Gleichheit Gefährliches in einer Meinung, in einem Zustand und
Affekte, in einem Willen, in einer Begabung liegt, das ist jetzt die moralische
Perspektive: die Furcht ist auch hier wieder die Mutter der Moral.“ (122, 26-30)
Die Gleichheit aller, die Mittelmäßigkeit habe sich schrittweise als bestimmen-
des Moralkriterium etabliert - ,„das Schaf4“ (123, 14) machte sich zum alleini-
gen moralischen Paradigma. Mittlerweile schrecke man aus Empfindlichkeit
vor Gewalt selbst davor zurück, Verbrecher zu bestrafen. Die Tendenz in dieser
moralgeschichtlichen Entwicklung ist die, die Furcht überhaupt abzuschaffen.
JGB 201 rekonstruiert die Moralentwicklung als Transformation der Exis-
tenzangst wie folgt: Zuerst dominiert in der als Herde gedachten menschlichen
Gemeinschaft die Furcht vor äußerer Gefahr - zum Schutz der Gemeinschaft
sind daher rücksichtslos-kriegerische Individuen wünschenswert; ihr Verhal-
 
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