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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0564
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544 Jenseits von Gut und Böse

ten trägt noch das Signum moralischer Vortrefflichkeit. Mit der äußeren Sicher-
stellung der Gemeinschaft wendet sich die Furcht nach innen und erfasst nun
die bisher als herausragend geschätzten Individuen. Schließlich strebt die Her-
de nach Abschaffung der Furcht als solcher - ein Projekt, das als chimärisch
erscheint.
An welchen historischen Gegebenheiten sich diese Skizze einer Naturge-
schichte der Moral festmachen will, bleibt in JGB 201 weitgehend offen. Nur
die Römer stellen eine konkrete Wegmarke dar (vgl. NK 122, 2-8). Die Rekons-
truktion benennt Ursachen und Folgen, die den Jetztzustand plausibel ma-
chen, ohne sich jedoch länger mit konkreten Belegen für die behaupteten frü-
heren Weltzustände aufzuhalten. Auch erscheint die Skizze monokausal, denn
nur die Furcht wird als Ursache von Veränderungen anerkannt - andere mögli-
che Faktoren der Moralentwicklung bleiben ausgeklammert. So elegant, weil
linear diese timorische Naturgeschichte der Moral anmutet, so schwierig dürfte
es doch sein, sie mit N.s alternativen Modellen zu harmonisieren, die dem Res-
sentiment, dem Aufkommen einer Sklavenmoral und dem Christentum die
Schlüsselrolle bei der Entstehung moderner Moral(en) zuweisen. Denn im Mo-
dell von JGB 201 ergibt sich jede Moralveränderung aus der inneren Logik der
Furcht herdenhafter Sozialverbände - und dazu gehören auch jene Sozialver-
bände, in denen zum Schutz gegen äußere Gefahren zunächst die kriegerisch-
exzessiven Individuen das Sagen haben. Ist die Logik der Furcht so zwingend
wie hier behauptet, müsste sich eigentlich in jeder Gesellschaft, die sich nach
außen abgesichert hat, die Furcht gegen die Mitglieder der Gesellschaft selbst
wenden, ganz egal, ob beispielsweise Benachteiligte, „Sklaven“ aus Zurückset-
zungsempfinden einen besonderen Abscheu vor den Herren kultivieren, oder
ob eine Religion die Erhöhung der Erniedrigten predigt. Es würde sich schlicht
um eine zwangsläufige sozial-moralische Entwicklung sämtlicher äußerlich se-
kurierter Gesellschaften handeln. Ist menschliches Verhalten im Kern von der
Logik der Furcht beherrscht, wären Elemente wie Ressentiment, Sklavenmoral
und Christentum nur kontingente Oberflächenphänomene, mit der in der okzi-
dentalen Kultur die Logik der Furcht fassbare Gestalt gewonnen hat. In ande-
ren Kulturen gäbe es andere Oberflächenphänomene, die Logik der Furcht blie-
be jedoch dieselbe.
121, 26 „Moral der Nächstenliebe“] Zur Nächstenliebe vgl. NK 122, 8-11. Die in
Anführungszeichen gesetzte Wendung, die bei N. sonst nicht vorkommt, be-
gegnet auch im zeitgenössischen Schrifttum nicht häufig. Eine besondere Vor-
liebe dafür hegte aber der Mediziner und populärwissenschaftliche Schriftstel-
ler Eduard Reich, der nicht müde wurde, die Unabdingbarkeit einer „Moral der
Nächstenliebe“ zu beschwören. N. hatte sich 1878 Reichs System der Hygieine
(sic!) angeschafft, deren erster Band sich exzessiv über „Moralische Hygieine“
 
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