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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0565
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Stellenkommentar JGB 201, KSA 5, S. 121-122 545

verbreitet und stipuliert: „Die Unerlässlichkeit der Nächstenliebe als rother Fa-
den der Moral muss ohne Weiteres Allen einleuchten, welche nur etwas Ver-
ständniss des Menschenlebens sich angeeignet haben.“ (Reich 1870-1871, 1, 8)
JGB 201 will demgegenüber die historische Kontingenz gerade einer „Moral der
Nächstenliebe“ demonstrieren.
121, 26-122, 2 Gesetzt, es findet sich auch da bereits eine beständige kleine
Übung von Rücksicht, Mitleiden, Billigkeit, Milde, Gegenseitigkeit der Hülfeleis-
tung, gesetzt, es sind auch auf diesem Zustande der Gesellschaft schon alle jene
Triebe thätig, welche später mit Ehrennamen, als „Tugenden“ bezeichnet werden
und schliesslich fast mit dem Begriff „Moralität“ in Eins zusammenfallen: in jener
Zeit gehören sie noch gar nicht in das Reich der moralischen Werthschätzun-
gen — sie sind noch äusser moralisch.] Die moralhistorische Perspektivie-
rung soll zeigen, dass es keine moralischen Tatsachen an sich gibt, sondern
dass bestimmte Habitus und Verhaltensweisen nur unter bestimmten Umstän-
den als moralisch, als gut gelten, während sie unter anderen Umständen als
moralisch indifferent oder sogar als schlecht erscheinen. Diese Historisierung
der Moral stellt einen fundamentalen Angriff auf den in der deutschen Philoso-
phie spätestens seit Kant vorherrschenden moralischen Apriorismus dar. Zur
Interpretation von 121, 26-122, 2 vor dem Hintergrund Schopenhauers siehe
Stegmaier 2013b, 20 f.
122, 2-8 Eine mitleidige Handlung zum Beispiel heisst in der besten Römerzeit
weder gut noch böse, weder moralisch noch unmoralisch; und wird sie selbst
gelobt, so verträgt sich mit diesem Lobe noch auf das Beste eine Art unwilliger
Geringschätzung, sobald sie nämlich mit irgend einer Handlung zusammengehal-
ten wird, welche der Förderung des Ganzen, der res publica, dient.] In der römi-
schen Stoa stand man dem Mitleiden als Affekt bekanntermaßen negativ oder
zumindest indifferent gegenüber (vgl. z. B. Ziegler 1881,169 u. 181), auch wenn
Weygoldt 1883, 149 anmerkt, in der frühen Kaiserzeit habe „die stoische Stren-
ge [...] gegen das Mitleid mit den Gebrechen der Menschheit [...] zurücktreten“
müssen (den stoisch-buddhistischen Gegensatz in Sachen Mitleid macht Wol-
zogen 1882, 245 stark). In Leopold Schmidts Ethik der alten Griechen hat N. zur
Kenntnis genommen, dass Aristoteles „die Affekte wie [...] Mitleid u. s. w. als
von dem freien Willen unabhängig von der sittlichen Beurtheilung aus-
schliesst“ (Schmidt 1882, 1, 284. N.s Unterstreichungen), hätte sich aber im
zweiten Band des Werkes darüber belehren lassen müssen, was für eine bedeu-
tende Rolle dem Mitleid im antiken Griechenland sonst zukam (ebd., 2, 290-
298). Rom blieb da allerdings ausgeklammert. Vgl. NK 209, 19-29.
122, 8-11 Zuletzt ist die „Liebe zum Nächsten“ immer etwas Nebensächliches,
zum Theil Conventionelles und Willkürlich-Scheinbares im Verhältniss zur
 
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