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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0566
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546 Jenseits von Gut und Böse

Furcht vor dem Nächsten] Die Überschrift „Furcht vor dem Nächs-
ten“ trägt bereits MA I 335, KSA 2, 247, 11. Jener Abschnitt behauptet aber
noch keine moralbegründende Funktion dieser spezifischen Furcht, die JGB
201 als viel elementarer darstellt als die später und willkürlich aufgepropfte
jüdisch-christliche „Liebe zum Nächsten“, bei der es sich quasi um ein Luxus-
phänomen handle. Bekanntlich wurde die Nächstenliebe schon in Leviticus 19,
18 geboten und in Matthäus 5, 43-45 zum Gebot der Feindesliebe sublimiert.
Während JGB 201 die Nächstenliebe mit der Nächstenfurcht konterkariert, setzt
Zarathustra ihr die „Fernsten-Liebe“ entgegen (Za I, Von der Nächstenliebe,
KSA 4, 79, 1 f.). Die Kombination von beidem gibt es dann im Nachlass: „Rathe
ich euch die Nächstenliebe? Lieber noch rathe ich Nächstenfurcht und Ferns-
tenliebe.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[234], 177, 10 f.) In all diesen Fällen zeigt sich
das Bestreben, die Bindungskraft des überlieferten Gebotes durch möglichst
kontradiktorische Gegenmaximen zu neutralisieren, obwohl es sich bei der
Nächstenfurcht zunächst ja nicht um ein Gebot, sondern um einen (angebli-
chen) historisch-empirischen Befund handelt, der jedoch sozial normierend ge-
wirkt habe (vgl. NL 1882/83, KSA 10, 4[18], 114, lf.: „Klein war noch die Liebe
zum Nächsten, verachtet das Ich: und über Alles war Heerde“). Vgl. zur Nächs-
tenliebe auch NK 79, 2-13; NK 101, 4f.; NK KSA 6, 138, 5-7 u. NK KSA 6, 270,
15-19.
122, 30 die Furcht ist auch hier wieder die Mutter der Moral] Vgl. NK 216, 26.
123, 15-23 Es giebt einen Punkt von krankhafter Vermürbung und Verzärtli-
chung in der Geschichte der Gesellschaft, wo sie selbst für ihren Schädiger, den
Verbrecher Partei nimmt, und zwar ernsthaft und ehrlich. Strafen: das scheint
ihr irgendworin unbillig, — gewiss ist, dass die Vorstellung „Strafe“ und „Strafen-
Sollen“ ihr wehe thut, ihr Furcht macht. „Genügt es nicht, ihn ungefährlich
machen? Wozu noch strafen? Strafen selbst ist fürchterlich!“ — mit dieser Frage
zieht die Heerden-Moral, die Moral der Furchtsamkeit ihre letzte Consequenz.]
Albert Hermann Post definierte in seinen von N. eifrig ausgebeuteten Baustei-
nen für eine allgemeine Rechtswissenschaft: „Der Grundcharakter aller Strafe ist
und bleibt Rache oder Friedloslegung, Ausgleich oder Unschädlichmachung.“
(Post 1880-1881, 1, 174. Von N. mit doppeltem Randstrich markiert.) Die Neu-
tralisierung der Gefährlichkeit, die vom notorischen Verbrecher ausgeht, ge-
winnt als Zweck der jeweiligen sozialen Abwehrmaßnahmen immer mehr an
Gewicht: „Es giebt [...] eine Quantität unverbesserlicher Verbrecher, welche so-
weit unter dem ethischen Durchschnittsniveau stehen, dass die Motive der
Strafandrohung und Strafausführung durchaus nicht genügen, ihren Neigun-
gen Zwang anzulegen. Hier hat die Strafe für sie nur den Sinn, dass man sie
für das Gemeinwesen unschädlich macht“ (ebd., 1,177). Post 1884, 363 beklag-
 
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