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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0567
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Stellenkommentar JGB 201, KSA 5, S. 122-123 547

te, dass gegenwärtig Verbrecher aufgrund medizinischer Gutachten „wegen
Ausschlusses freier Willensbestimmung“ freigesprochen und „trotzdem nicht
durch Aufnahme in eine Irrenanstalt unschädlich gemacht werden“. Die in 123,
15-23 fassbare Kritik an der Zimperlichkeit der Strafpraxis und an der »Kuschel-
justiz4, die der Text als Ausdruck einer krankhaften gesamtgesellschaftlichen
Furcht vor dem Verletzen deutet, wurde also von zeitgenössischen Rechtsprak-
tikern - Post war Richter - durchaus geteilt. Vgl. zum Verbrecher und seiner
Strafwürdigkeit sowie zu N.s einschlägigen Quellen NK 36, 12-31; zum Thema
der Strafabschaffung bei N. allgemein Gschwend 2001,144-146 und Bung 2007,
133-136, zu N.s Verhältnis zu zeitgenössischen Theorien des Verbrechens Stin-
gelin 1994. Die Gefährlichkeit des Verbrechers u. a. anhand von 123,15-23 erör-
tert Balke 2003, 182-189 im Abgleich mit Foucault und Derrida.
123, 27-33 Wer das Gewissen des heutigen Europäers prüft, wird aus tausend
moralischen Falten und Verstecken immer den gleichen Imperativ herauszuzie-
hen haben, den Imperativ der Heerden-Furchtsamkeit: „wir wollen, dass es ir-
gendwann einmal Nichts mehr zu fürchten giebt!“ Irgendwann einmal —
der Wille und Weg dorthin heisst heute in Europa überall der „Fortschritt“. ]
JGB 201 sieht die Moralgeschichte demnach von einer Heuristik der Furcht,
oder genauer: der Furchtabschaffung bestimmt, die unter der Herden-Losung
Johannes 16, 33 stehen könnte. Die Furcht (die von der ungegenständlichen
Angst bis zu Kierkegaard und Heidegger terminologisch nicht scharf unter-
schieden wurde) war in den frühneuzeitlichen politischen Philosophien ein
zentrales Thema. So werden bei Thomas Hobbes die Menschen zur Vergesell-
schaftung getrieben durch die Furcht aller vor allen, was N.s früher philoso-
phiehistorischer Gewährsmann Friedrich Albert Lange so ausbuchstabierte:
„Nicht durch politischen Instinkt, sondern durch Furcht und Vernunft komme
der Mensch zur Vereinigung mit Seinesgleichen, zum Zweck der gemeinsamen
Sicherheit.“ (Lange 1866, 132) Während Hobbes den sozialen Nutzen der
Furcht - namentlich auch der durch Religion erzeugten Furcht in Händen des
politischen Souveräns - hochhielt, warb im selben angstbestimmten Krisen-
jahrhundert Spinoza für philosophische Furchtüberwindung. Am Ende dieses
Bestrebens stünde, mit N.s Spinoza-Quelle Kuno Fischer gesprochen, die Si-
cherheit: „Sicherheit (securitas) ist die Hoffnung, die nichts mehr zu fürchten
hat.“ (Fischer 1865, 2, 357) Das soziale Programm einer Überwindung der
Furcht, ist aus der Perspektive von JGB 201 das Programm einer völligen Still-
legung menschlicher Triebregungen: Wer die Angst abschaffen will, will den
Menschen als aktives Wesen abschaffen. Und genau dies ist ja die Tendenz der
in diesem Abschnitt skizzierten sozialen Entwicklung im Umgang mit heraus-
ragenden und mit verbrecherischen Persönlichkeiten.
 
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