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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0568
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548 Jenseits von Gut und Böse

202.
Ein weit gediehener Entwurf von JGB 202 findet sich in KGW IX 4, W I 6, 9, 23-
44 u. 11,1-38. JGB 202 stellt wesentliche Aspekte zur Naturgeschichte der Moral
noch einmal in plakativer Anschaulichkeit zusammen, und zwar ausdrücklich
als die dem Publikum schwer eingängige Erkenntnis des sprechenden „Wir“,
das sich von allem Zeitgeist geschieden weiß - zunächst einmal dadurch, dass
es den Menschen unter die Tiere zurückstellt, sodann, dass es das Überhand-
nehmen einer vom „Instinkt des Heerdenthiers Mensch“ (124, 20) beherrschten
Moral in „Europa“ konstatiert, während doch „viele andere, vor Allem höhe-
re Moralen möglich sind“ (124, 27 f.). Eine „Religion“ (124, 32), sprich: das
Christentum, habe sich als Handlanger dieser Herdenbedürfnisse entpuppt, die
in den modernen demokratischen Ideen und Institutionen voll zum Durch-
bruch gekommen seien, bei Anarchisten, Revolutionären und Sozialisten jed-
weder Färbung, aber auch im Kult des Mitleids, dem die Gegenwart fröne.
Der Rundumschlag dieses Abschnitts, in dem das sprechende „Wir“ als
Naturhistoriker der Moral längst nicht mehr vornehme Urteilsabstinenz übt,
verwischt Differenzen. Aus JGB 201 dürften die Leser den Eindruck gewonnen
haben, Menschen seien natürlicherweise Herdentiere, so dass jede Form von
Moral als eine Herdenmoral erscheinen müsste, auch und gerade diejenige, die
JGB 201 an den historischen Beginn stellt, nämlich die, welche das große und
gewalttätige Individuum als „gut“ preist, weil es zum Schutz der Herde agiert.
Dass es unter den Bedingungen äußerer Bedrohung für die Herde nur richtig
sei, die Aggressiven moralisch zu adeln, folgt aus JGB 201 unmissverständlich.
Dann aber wäre auch der aristokratische Moralkodex beispielsweise in den
Epen Homers nur Ausdruck eines Herdenbedürfnisses. Nach JGB 202 hingegen
sollen „viele andere“ Moralen möglich sein, in denen nicht der Herdeninstinkt
obsiegt. Wie aber sollte eine solche Moral aussehen? Die Fokussierung auf Eu-
ropa und auf die unter europäischem Einfluss stehenden Gebiete löst das syste-
matische Problem ebensowenig: Denn so deutlich im Text die Opposition ge-
gen die seinerzeit in Europa vorherrschenden moralisch-politischen Tendenzen
auch hervortritt, so unklar bleibt doch, wie außereuropäische Gesellschaften
sich der Logik der Herdenmoral entzogen haben können. Wenn es stimmt, dass
die Menschen Tiere, und zwar Herdentiere sind, könnte sich keine Gesell-
schaft, der an Selbsterhaltung gelegen ist, den Luxus leisten, nicht ihrem Her-
deninstinkt zu gehorchen. Stimmt die Analyse von JGB 201, müssten menschli-
che Gesellschaften, sofern es Gesellschaften sind, herdenartig organisiert
sein - und je nach Stadium der Entwicklung von anderen Formen der Furcht
bestimmt und moralisch gelenkt sein. Dann wäre jede Moral einer menschli-
chen Gesellschaft eine Herdenmoral. Zur Interpretation von JGB 202 siehe auch
Tongeren 1989, 68-73 und Lampert 2001, 174-176.
 
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