Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0584
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
564 Jenseits von Gut und Böse

aber verfiel sie ins widersinnliche Dialektisiren oder ins priesterlich Ange-
hauchte; beides war aber der eigentlichen Er-/249/kenntniss von Natur und
Leben ungünstig, ja feindlich“ (Dühring 1882, 248 f.).
131,11-14 die heute Dank der Mode ebenso oben-auf als unten-durch sind — in
Deutschland zum Beispiel die beiden Löwen von Berlin, der Anarchist Eugen
Dühring und der Amalgamist Eduard von Hartmann] Im Druckmanuskript hieß
es ursprünglich: „wie sie gerade heute eben so sehr obenauf als ,unten durch4
sind - Herbert Spencer zum Beispiel in England, Eduard von Hartmann und
Eugen Dühring in Deutschland“ (KSA 14, 361). Alle drei Autoren waren für N.
wichtige Stichwortgeber, zu denen er mittels Polemik Distanz schaffte, vgl. NK
129, 16-19.
131, 32-34 Philosophie auf „Erkenntnisstheorie“ reduzirt, thatsächlich nicht
mehr als eine schüchterne Epochistik und Enthaltsamkeitslehre] Erkenntnistheo-
rie als philosophische Kerndisziplin gilt bei N. als Signum neuzeitlichen Den-
kens (vgl. NK 73, 5-22) und wurde vor allem im neukantianischen Kontext ex-
plizit ausformuliert. N. las diverse Schriften, die mit dem Begriff operieren oder
ihn sogar im Titel führen (so z. B. Schmitz-Dumont 1878). Seine Kritik zielte auf
die Selbstkastration einer eigentlich zur Herrschaft bestimmten Philosophie,
die sich mit dem Nachdenken auf die Möglichkeitsbedingungen des Welterken-
nens bescheidet, anstatt zum Weltgestalten überzugehen - was übrigens an
Marx’ berühmte 11. Feuerbach-These erinnert, wonach die bisherigen Philoso-
phen die Welt nur interpretiert hätten, anstatt sie, wie nötig, zu verändern
(Marx / Engels 1969, 3, 7). Vgl. NL 1885/86, KSA 12, l[60], 26, 1-8 (entspricht
KGW IX 2, N VII 2, 143, 28-40) und NK KSA 6, 76, 4-6.
Das Verfahren der antiken pyrrhonischen Skeptiker nennt man cnoxp, Ur-
teilsverzicht (vgl. z. B. Diogenes Laertius: De vitis IX 70). „Epochistik“ wäre also
eine Technik des Urteilsverzichts. Eine solche Technik mag nach JGB 204 in der
modernen, sich vornehmlich erkenntnistheoretisch profilierenden Philosophie
vorherrschen - der eigentliche praktische Zweck der pyrrhonischen cnoxp,
nämlich Seelenruhe, spielt in der Moderne keine Rolle mehr: Epochistik ist nur
noch Ausdruck einer Ängstlichkeit, des Bestrebens, jede Festlegung zu vermei-
den. Die dann in JGB 209 umrissene starke Skepsis übt wiederum keinen Ur-
teilsverzicht, sondern gibt sich rabiat urteilsfreudig. An anderer Stelle konnte
N. der cnoxp (die er gelegentlich „Ephexis“ nannte) durchaus etwas abgewin-
nen, vgl. NK KSA 6, 108, 26-29 u. NK KSA 6, 233, 22.
205.
Hat JGB 204 eben noch vom langwierigen Todeskampf der Philosophie geunkt,
so ist JGB 205 bestimmt von der Besorgnis um die Gefahren der Spezialisierung,
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften