Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0585
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar JGB 205, KSA 5, S. 131-132 565

der Verzettelung, der Falschgewichtung und der asketischen Selbstzurücknah-
me, die den Philosophen bei seiner „Entwicklung“ (132, 6) behindern. Dement-
sprechend könnte also entgegen den Weherufen in JGB 204 der Philosophie
noch sehr wohl eine Zukunft beschieden sein. Lag sie eben noch in mitleidhei-
schender „Agonie“ (132, 3), bricht JGB 205 das düstere Bildprogramm, wenn
jetzt vom Philosophen gesprochen wird, der trotz mancherlei Bedrängnis als
„Frucht“ „reif werden“ (132, 6) und auf einer neuen „Höhe“ „zum Überblick,
Umblick, Niederblick“ kommen soll. Wie immer es um das Abstractum
„Philosophie“ bestellt sein mag: Der erkenntnislüstern-machtwillige Philosoph
hat trotz aller Widerstände noch beste Aussichten. JGB 205 müht sich darum,
dass der Philosoph nicht verwechselt werde - nicht mit dem Gelehrten oder
dem Wissenschaftler, aber auch nicht mit dem Asketen, dem „religiös-gehobe-
nen entsinnlichten ,entweltlichten‘ Schwärmer“ (133, 5). Die potentiellen Aspi-
ranten auf ein philosophisches Dasein werden direkt angesprochen: „der rech-
te Philosoph — so scheint es uns, meine Freunde? — lebt ,unphilosophisch4
und ,unweise4, vor Allem unklug“ (133, 11 f.). Hierin liegt die eigentliche
Pointe von JGB 205: Die Lebensform der Zukunftsphilosophen unterscheidet
sich fundamental von derjenigen ihrer Vorgänger in der Vergangenheit, die
allesamt mehr oder weniger überzeugende Virtuosen der Askese gewesen sind
und auf Gefahrvermeidung, auf Absicherung bedacht waren. Der Philosoph
der Zukunft soll den „Versuch“ nicht nur predigen, sondern auch unterneh-
men: „er risquirt sich beständig, er spielt das schlimme Spiel 44 (133, 14 f.).
Das Experimentelle wird in Theorie und Praxis sein Leben auszeichnen (wäh-
rend der Wissenschaft der Mut zum Wagnis fehlen dürfte, siehe Scheier 1990,
XVII). Vgl. auch NL 1885/86, KSA 12, 2[164], 146 f. (entspricht KGW IX 5, W I 8,
67 f.). Findler 1998, 31 behauptet im Blick auf JGB 205, N. schematisiere hier
die äpETq-Ethik des Aristoteles.
132, 20 f. dass Einer, der vor sich selbst die Ehrfurcht verloren hat, auch als
Erkennender nicht mehr befiehlt] Folgt man den Lehren der Pädagogischen Pro-
vinz in Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, 2. Buch, 1. Kapitel ist „die obers-
te Ehrfurcht“ „die Ehrfurcht vor sich selbst“, vgl. NK 233, 15 f.; NK KSA 6, 152,
13 u. NK KSA 6, 151, 25 f.
132, 23 f. zum philosophischen Cagliostro und Rattenfänger der Geister, kurz
zum Verführer] Zu Cagliostro vgl. NK 116, 2 u. NK KSA 6, 23, 4-7; zur Figur des
Rattenfängers NK KSA 6, 22, 22-24 u. NK KSA 6, 58, 2. Auch N. spielte gerne mit
der Rolle des Verführers, weil womöglich andere Einladungen zur Philosophie
versagen (vgl. z. B. NK 95,15 f.). Die Rolle des Versuchers ist mit der des Verfüh-
rers eng verwandt, vgl. JGB 42, KSA 5, 59, 24-31 und auch schon den „Don
Juan der Erkenntnis“ in M 327.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften