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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0587
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Stellenkommentar JGB 207, KSA 5, S. 132-134 567

134, 17-26 Das Schlimmste und Gefährlichste, dessen ein Gelehrter fähig ist,
kommt ihm vom Instinkte der Mittelmässigkeit seiner Art: von jenem Jesuitismus
der Mittelmässigkeit, welcher an der Vernichtung des ungewöhnlichen Menschen
instinktiv arbeitet und jeden gespannten Bogen zu brechen oder — noch lieber! —
abzuspannen sucht. Abspannen nämlich, mit Rücksicht, mit schonender Hand
natürlich —, mit zutraulichem Mitleiden abspannen: das ist die eigentliche
Kunst des Jesuitismus, der es immer verstanden hat, sich als Religion des Mitlei-
dens einzuführen. —] Dass der „Jesuitismus“ in einem weiten Sinn die große
Abspannungsbewegung gewesen sei, behauptete bereits die Vorrede von JGB,
vgl. ausführlich NK 13, 6, sodann NK 12, 30-13, 9 u. NK 13, 11-16. Allerdings
unterbleibt eine Erläuterung, inwiefern Gelehrte per se Jesuiten seien, abgese-
hen von der Behauptung, sie hätten ein Interesse daran, das „Genie“ klein und
damit sich gleich zu machen. Wenn „Jesuitismus“ tatsächlich als „Religion des
Mitleidens“ auftritt, dann ist nicht zu erkennen, wie das zur Aussage passen
soll, dass der als jesuitisch ausgewiesene Gelehrte gegenüber dem großen Men-
schen „wie ein glatter widerwilliger See“ sei, „in dem sich [...] kein Mitgefühl
mehr kräuselt“ (134, 15-17). Ist der Gelehrte jetzt hartherzig gegenüber dem
Genie oder vielmehr eingemeindend-weichherzig? Gleichgültig wie sich der Ge-
lehrte verhält: Das Urteil über ihn scheint immer schon gesprochen. Zur „Reli-
gion des Mitleidens“ siehe NK 125, 22-26.
207.
Eine frühere Fassung des Textes findet sich in KGW IX 5, W I 8, 241 u. 239. JGB
207 gibt ein Anschauungsbeispiel, wie Philosophen der Zukunft als „cäsari-
sche[.] Züchter und Gewaltmenschen der Cultur“ (136, 21) sich anderer Men-
schen zu ihren Zwecken bedienen werden. Hier trifft es den vermeintlich „ob-
jektiven Geist[.]“ (134, 28), der sich als höchsten Zweck der Kultur zu verste-
hen pflegt, aber doch als „Werkzeug“ „in die Hand eines Mächtigeren“ (135,
10 f.) gehöre. Der Zündstoff liegt einerseits darin, dass ,,[d]er objektive Mensch“
(135, 5 f.) sich als »„Selbstzweck“4 (135,12) ansieht - als Forscher, dem es allein
um die Sache geht und der in der Erschließung einer Sache die höchste Stufe
menschlicher Aktivität findet. Das macht JGB 207 ihm streitig, indem dieser
Abschnitt den objektiven Menschen an philosophische Gewaltmenschen aus-
liefern möchte, die sich seiner und seiner Erkenntnisse bloß zu ihren Zwecken
bedienen wollen. Andererseits ist JGB 207 ein direkter Angriff auf die Ethik
Kants, dessen Kategorischer Imperativ auf die Selbstzweckhaftigkeit jedes
Menschen als Vernunftwesen pocht und so „jeden anderen jederzeit zugleich
als Zweck, niemals bloß als Mittel“ (AA IV, 429) zu behandeln gebietet (vgl. NK
110, 3-11; NK 227,10-13 u. NK ÜK JGB 265). Der Abschnitt wiederholt langatmig
 
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