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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0588
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568 Jenseits von Gut und Böse

die Kritik am Objektivitätsideal der Wissenschaft, das schon N.s Zweite unzeit-
gemässe Betrachtung in der Geschichtsbetrachtung zurückgewiesen hatte (vgl.
auch FW 345, KSA 3, 577-579): Der Glaube, die Wirklichkeit objektiv wiederge-
ben zu können, erscheint als perspektivischer Trugschluss; wer sich für objek-
tiv hält, legt sich über die eigene Bedingtheit nicht hinreichend Rechenschaft
ab und minimiert das Besondere, das Individuelle, das ihn eigentlich aus-
macht.
JGB 207 lässt sich auch als Beschreibung von N.s eigenem Umgang mit
wissenschaftlicher Literatur lesen: N. konsultierte bekanntlich die Werke der
„objektiven Geister“ aus allen möglichen Wissensbereichen, aber nicht, um
selbst die Wirklichkeit abzuspiegeln, ging es ihm doch nicht um die Sachen
selbst - die Erkenntnisse aus diversen Disziplinen - , sondern darum, sie in
seinen Schriften zu verwerten. Mit seinem eigenen schroffen Ja und Nein be-
gegnete N. jener „gefährliche[n] Unbekümmertheit um Ja und Nein“ (136, If.)
der „objektiven Menschen“, nicht ohne diesen Abschnitt in ironischer Anpas-
sung an die Sprechweise der Gelehrten mit lateinischen und französischen
Wendungen zu spicken.
134, 30 Ipsissimosität] Das lateinische Kunstwort „Ipsissimosität“ - in struktu-
reller Anlehnung an „Animosität“ (ursprünglich „animositas“, „Beherztheit“)
abgeleitet vom Superlativ „ipsissimus“ des Wortes „ipse“ („selbst“, „eigen“,
„persönlich“) -, das sich vor N., der es nur hier verwendet, nicht belegen lässt,
ist am besten mit „äußerster Selbstbezogenheit“, „Selbstbezüglichkeit“,
„Selbstbesessenheit“ zu übersetzen. Vgl. auch Lampert 1996, 26 f.
134, 31-135, 5 zuletzt muss man aber auch gegen seine Dankbarkeit Vorsicht
lernen und der Übertreibung Einhalt thun, mit der die Entselbstung und Entper-
sönlichung des Geistes gleichsam als Ziel an sich, als Erlösung und Verklärung
neuerdings gefeiert wird: wie es namentlich innerhalb der Pessimisten-Schule zu
geschehn pflegt, die auch gute Gründe hat, dem „interesselosen Erkennen“ ihrer-
seits die höchsten Ehren zu geben.] Vgl. NK 52, 2-14 u. NK 139, 2, zum Hinter-
grund in der ästhetischen Theorie Kants und Schopenhauers Neymeyr 1995,
242 f.
135, 33-136, 3 die sonnige und unbefangene Gastfreundschaft, mit der er Alles
annimmt, was auf ihn stösst, seine Art von rücksichtslosem Wohlwollen, von ge-
fährlicher Unbekümmertheit um Ja und Nein: ach, es giebt genug Fälle, wo er
diese seine Tugenden büssen muss] Vgl. NK 59, 16-21.
136, 4 caput mortuum] Lateinisch: „Totenkopf“. In der Alchemie wurde die
nach einem Experiment zurückbleibende, vermeintlich wertlose Substanz ca-
put mortuum genannt; seither bürgerte sich die Wendung in der Gelehrtenspra-
 
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