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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0630
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610 Jenseits von Gut und Böse

rung „Religion als Attitüde“ (152, 25). Ohne es ausdrücklich zu sagen, scheint
gerade der Geschmacksvorbehalt gegen die Moralattitüde zu „unseren Tugen-
den“ zu gehören - mit der Pointe, dass „Geschmack“ (152, 26) ein ästhetisches
und kein ethisches Urteil impliziert (vgl. auch Steinmann 2000, 141).
152,16 Seine Feinde lieben?] Vgl. zu Jesu Gebot der Feindesliebe NK 104, 2 u.
NK 152, 18-20.
152,18-20 wir lernen verachten, wenn wir lieben, und gerade wenn wir am
besten lieben] Bei Lukas 6, TI lautet das Gebot der Feindesliebe in der von N.
benutzten Version der Luther-Übersetzung: „Liebet eure Feinde; thut denen
wohl, die euch hassen“ (Die Bibel: Neues Testament 1818, 76). In Za I Von den
drei Verwandlungen ließ N. den „tragsamen Geist“ fragen, was „das Schwer-
ste“ (KSA 4,29,10) sei: „ist es das: Die lieben, die uns verachten“? (KSA 4, 30,1)
N. machte sich hier einen im 19. Jahrhundert sprichwörtlich verbreiteten Rat-
schlag aus Jean Pauls Unsichtbarer Loge zu eigen, der der biblischen Vorlage
eine neue Wendung gegeben hatte: „haltet es für schwerer und nöthiger, die
zu lieben, die euch verachten, als die, die euch hassen“ (Jean Paul 1822, 1,
XXI f.). JGB 216 kehrt nun die mit Jean Paul in Also sprach Zarathustra bereits
abgewandelte, biblische Vorlage noch einmal um, indem ausgeklammert wird,
wie sich diejenigen verhalten, die geliebt werden sollen. Stattdessen werden
Lieben und Verachten in eins gesetzt, was jene negative Reziprozitätslogik un-
terläuft, die sich einen moralischen Gewinn dadurch verspricht, ausgerechnet
die Hassenden und Verachtenden zu lieben. Eine solche Haltung erschiene un-
vornehm, weil sie sich vom Verhalten der Anderen abhängig macht. Lieben
und Verachten soll in einer Hand bleiben, als Ausdruck von Souveränität.
152, 23 f. Moral als Attitüde — geht uns heute wider den Geschmack.] Während
die Wendung „Moral als Attitüde“ abschätzig gemeint ist - Moral als bloßer
Aufputz - und in polemischer Absicht gegen den herrschenden Moralglauben
in Stellung gebracht wird, meint die zugrunde liegende französische Wendung
„attitude morale“ zunächst nur „moralische Haltung“, ebenso wie „attitude
religieuse“ „religiöse Haltung“ und nicht „Religion als Attitüde“ (152, 25).
Gleichwohl bekam „attitude morale“ auch im zeitgenössischen französischen
Gebrauch eine kritische Konnotation, so etwa in Edmond und Jules Huot de
Goncourts Studie La femme au dix-huitieme siede, die N. besaß: Die großbür-
gerliche Frau heuchle „un air de rigidite et de secheresse, un maintien physi-
que et une attitude morale oü la dignite tourne ä la raideur, la vertu ä l’intole-
rance. Le devoir semble etre en eile ä la place du coeur“ (Goncourt/Goncourt
1878, 267 - „einen Zug von Rigidität und Trockenheit, eine äußerliche Haltung
und eine moralische Haltung, bei der die Würde sich in Steifheit kehrt, die
 
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