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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0632
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612 Jenseits von Gut und Böse

losophie der »Regel' im Kampfe mit der »Ausnahme“4 (153, TJ f.) zu übertragen
und eine „Vivisektion am »guten Menschen“4 (153, 30 f.) anzustrengen. Rück-
sichtslose Kälte gegenüber bisherigen moralischen Vorurteilen wäre dann in
den neuen Tugendkatalog aufzunehmen.
153, 11-17 Die Psychologen Frankreichs — und wo giebt es heute sonst noch
Psychologen? — haben immer noch ihr bitteres und vielfältiges Vergnügen an der
betise bourgeoise nicht ausgekostet, gleichsam als wenn genug, sie verrathen
etwas damit. Flaubert zum Beispiel, der brave Bürger von Rouen, sah, hörte und
schmeckte zuletzt nichts Anderes mehr: es war seine Art von Selbstquälerei und
feinerer Grausamkeit.] N. hat sich bekanntlich für Psychologie, namentlich für
Literatur-Psychologie aus Frankreich lebhaft interessiert; die Kritik an der „be-
tise bourgeoise44, der „bürgerlichen Dummheit44 kommt in der einschlägigen
Literatur öfter zur Sprache (vgl. z. B. Brunetiere 1884b, 56; im Blick auf Flau-
berts antibürgerlichen und misanthropischen Affekt auch Flaubert 1884,
LXXV f. Campioni/Fornari 2011, 25 f. bringen diesen Text als mögliche Inspirati-
on für JGB 218 ins Gespräch). Die direkte Vorlage für 153, 11-17 ist jedoch die
in N.s Bibliothek erhaltene Aufsatzsammlung Les hommes et les idees des Alt-
historikers und Literaturkritikers Henry Houssaye (1848-1911), die N. während
der Fertigstellung von JGB gelesen haben dürfte. In Houssayes einschlägigem
Aufsatz wird nicht nur Gustave Flauberts innige Verbundenheit mit Rouen the-
matisiert, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft er Emma Bovary ihr Schicksal
habe erleiden lassen (Houssaye 1886, 187). Nie seien die „analyse psychologi-
que et physiologique, la peinture de la vie reelle44 (ebd., 186 - „psychologische
und physiologische Analyse, das Gemälde des wirklichen Lebens44) weiter ge-
trieben worden als in Madame Bovary (vgl. zu diesem Roman auch NK KSA 6,
34, 17-20). Und dann heißt es: „0 complexite du cerveau de l’homme! Gustave
Flaubert avait ä l’etat d’obsession la haine du bourgeois, - il eut d’ailleurs ete
fort en peine de definir ce qu’il appelait le bourgeois, - et il a passe la moitie
de sa vie ä observer, ä rapporter, ä decrire les moeurs, les conversations, les
figures les plus platement bourgeoises! Son dernier livre [sc. Bouvard et Pecu-
chet], ce livre termine le jour de sa mort, est, dit-on, le dossier de la betise
bourgeoise. A quel point differait donc l’esthetique de l’ecrivain des idees de
l’homme? Flaubert avait l’horreur du terre-ä-terre de la vie contemporaine, de
la banalite de l’existence quotidienne, des sottises et des lieux communs des
conversations courantes. Mais prenait-il la plume tout se modifiait en son es-
prit: il ne trouvait point de fache plus interessante que decrire ä grand effort
de travail les passions mesquines, les sottes vanites et les carac-
teres effaces de cette societe qu’il execrait dans la realite.44 (Ebd., 190. „0 Ver-
tracktheit des menschlichen Gehirns! Gustave Flaubert hatte den Hass gegen
den Bürger bis zu einem Zustand von Besessenheit, - er wäre übrigens stark
 
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